Das Stillhalten hat nichts genützt. „Es ist von vielen Zeugen und Beteiligten gemauert worden“, sagt der Staatsanwalt in seinem Plädoyer. Kein Wunder, denn fast alle haben wohl etwas zu verbergen. Dennoch ist ein 23 Jahre alter Angeklagter jetzt, auf den Tag genau ein Jahr nach einem Überfall im Stuttgarter Osten, vom Stuttgarter Landgericht zu einer langen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Er muss für vier Jahre und neun Monate hinter Gitter. Allerdings nicht wie angeklagt wegen versuchten Mordes, sondern nur wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung.
Auch der junge Stuttgarter hatte den gesamten Prozess über geschwiegen – bis zu seinem letzten Wort, in dem er betonte, er habe das Messer nicht verwendet. Dennoch war zum Schluss klar, dass er nicht ungeschoren davonkommen würde. Eigene frühere Aussagen, Zeugen und die Auswertung seines Handys hatten ergeben, dass er im September 2023 gemeinsam mit fünf bis sechs weiteren Männern im Stuttgarter Osten einem Radfahrer aufgelauert hatte. Das heute 20 Jahre alte Opfer wurde vom Rad gerissen, geschlagen, getreten, mit dem Kopf gegen ein Auto gestoßen.
Als die Gruppe, die spontan mit zwei Autos aus dem Hallschlag gekommen war, schließlich flüchtete, wies der Schwerverletzte auch vier Messerstiche auf, unter anderem in der Brust. Lebensgefahr bestand zwar nicht, die Stiche wurden aber sowohl per Gutachten als auch vom Gericht als potenziell lebensgefährlich gewertet.
Die Aktion war wohl die Revanche für einen Übergriff auf den jüngeren Bruder eines der Beteiligten. Hinter dem vermuteten sie den Mann aus dem Osten. Man habe eine „Belehrung“ erteilen wollen, sagte der einzige Tatbeteiligte, der das Schweigen brach. Das sei aber aus dem Ruder gelaufen. Ein Messer hätte nicht im Spiel sein sollen. Allerdings sprach auch dieser Zeuge erst nach einer mehrmonatigen Untersuchungshaft, weil man erst ihn für den Messerstecher gehalten hatte. Er belastete den Angeklagten, ohne das Messer selbst gesehen zu haben. Es sei nach der Tat mit anderen Beteiligten darüber gesprochen worden. Auch das Opfer wollte weder einen der Angreifer erkannt haben noch etwas zu der möglichen Vorgeschichte sagen.
Hat der Angeklagte wirklich zugestochen?
Es blieb also bis zum Schluss die spannende Frage, ob es für eine Verurteilung wegen der Messerattacke reichen würde. Während der Staatsanwalt die Beweislast für ausreichend hielt und eine Strafe von fünf Jahren und acht Monaten forderte, wies der Verteidiger darauf hin, es komme auch fast jeder andere der Gruppe für die Messerstiche infrage. „Es ist vieles im Ungefähren geblieben. Diverse Zeugen haben einen strategischen Gedächtnisverlust.“ Der einzige Mittäter, der geredet habe, wolle seinen eigenen Kopf aus der Schlinge ziehen. Er sprach sich deshalb für eine Bewährungsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung aus.
Unterbrochen wurden die Ausführungen im Saal indes gleich zwei Mal. Erst wurde im Landgericht ein Amokalarm ausgelöst, der sich nach wenigen Minuten als Fehlalarm herausstellte. Dann gab es ein kurzes Durcheinander, weil mutmaßliche Bekannte des Angeklagten im Zuschauerraum offenbar verbotenerweise Fotos oder Videos von der Verhandlung gemacht hatten. Ihre Handys wurden daraufhin unter Protest der Betroffenen eingezogen sowie die Personalien der beiden Männer festgestellt.
Das Gericht kam nach einigen Beratungen schließlich zu dem Urteil, dass der Angeklagte des Messerangriffs schuldig sei. Die Kammer hielt die Ausführungen des auskunftsfreudigen Mittäters, der inzwischen ebenso wie der Geschädigte aus Stuttgart weggezogen ist, für glaubhaft. Außerdem sei der 23-Jährige aufgrund einer Tasche, die am Tatort gesehen und bei ihm gefunden wurde, überführt. Zudem habe er im Internet auf verschiedenen Seiten bereits kurz nach der Tat unter dem Stichwort „Messerstecherei“ nach Berichten über den Angriff gesucht, müsse also gewusst haben, dass ein Messer im Spiel gewesen ist.
Für eine Verurteilung wegen versuchten Mordes sah die Kammer allerdings keinen Ansatzpunkt. Deshalb muss der Verurteilte nun – sofern das Urteil rechtskräftig wird – wegen versuchten Totschlags ins Gefängnis. Das kennt er nicht nur aus der Untersuchungshaft: Wie die Richterin in der Urteilsbegründung betonte, ist der 23-Jährige nicht nur mehrfach vorbestraft, auch wegen Gewaltdelikten, sondern hat sich nur drei Monate nach seiner Entlassung aus der Haft wegen einer anderen Tat an dem Angriff auf den Radfahrer beteiligt. „Das“, so die Richterin, „ist wirklich eine schnelle Rückfälligkeit.“