Bundespräsidenten werden für fünf Jahre gewählt. Joachim Gauck hat sich in der ersten Hälfte seiner Amtszeit zum beliebtesten Politiker der Republik entwickelt – trotz oder vielleicht sogar wegen seiner Neigung zu klaren Worten.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Berlin - Touristen in Berlin können sich den langen Spaziergang aus dem Herzen der Hauptstadt am Ufer der Spree entlang hinaus zum Schloss Bellevue sparen. Den Bundespräsidenten bekommen sie da ohnehin selten zu Gesicht. Selbst wenn auf dem Dach seines Domizils die präsidiale Flagge gehisst ist, welche die Anwesenheit des Hausherrn signalisiert. Unter den Linden wird Joachim Gauck künftig aber ständig präsent sein – im Wachsfigurenkabinett der Madame Tussaud. Besucher hätten sich das gewünscht, heißt es. Gauck ist der mit Abstand beliebteste Mann im Ensemble der Politik.

 

Dabei verdankt er den Beginn seiner späten Karriere einer Art Betriebsunfall im politischen Geschäft. Angela Merkel wollte ihn schon 2010 als Staatsoberhaupt verhindern. Da hatte die Opposition ihn aufs Schild gehoben – als Kontrastmodell zu Merkels Parteikandidaten Christian Wulff: Bildungsbürger gegen Berufspolitiker. Wenn es damals eine Volksabstimmung gegeben hätte, wäre Gauck jetzt schon vier Jahre die Nummer eins im Staate.

Tatsächlich wurde er es erst im Frühjahr 2012, nachdem Wulff aus dem Amt gestolpert war. Wenn es nach der Kanzlerin gegangen wäre, dann hätte sie Gauck auch im zweiten Anlauf verhindert. Doch inzwischen harmonieren die beiden leidlich. Er führt sich nicht auf wie Merkels Grüßonkel, fährt ihr aber selten in die Parade. Freilich setzt Gauck ab und an schon eigene Akzente – als wolle er die von ihm repräsentierte Republik aus ihrer Merkel-Trance wach rütteln.

Glücksfall für das höchste Amt im Staate

Nach der Hälfte seiner ersten Amtszeit hat er Deutschlands mächtigste Frau auf der Beliebtheitsskala schon eingeholt. Eine Mehrheit würde sich wünschen, dass er 2017 noch einmal antritt. Dafür sprechen sich auch namhafte Politiker aus dem Regierungslager aus. „Gauck ist ein überzeugender Präsident“, meint der CSU-Minister Christian Schmidt. „Er repräsentiert Deutschland würdig und sympathisch“, sagt CDU-Vize Thomas Strobl.

Der inzwischen 74-jährige Pastor aus Rostock ist ein Glücksfall für das höchste Amt im Staate. Nachdem gleich zwei seiner Vorgänger vorzeitig gescheitert waren, wurde lauthals diskutiert, wozu unsere Kanzlerdemokratie überhaupt einen Präsidenten brauche. Diese Frage wird nicht mehr gestellt, seit Gauck in Schloss Bellevue residiert. Er hat dem Amt die Würde zurückgegeben, ihm neue Autorität verliehen – was keineswegs heißt, dass Gauck ohne Fehl und Tadel wäre und es keinerlei Kritik an seiner Art zu präsidieren gäbe. Er provoziert solche Kritik geradezu, nimmt sie zumindest billigend in Kauf.

Der provokanteste Präsident der Bundesrepublik

Gauck ist der provokanteste und vielleicht auch der politischste Präsident, den die Bundesrepublik je hatte. Das erklärt sich aus seiner Neigung zu klaren Worten, der leidenschaftlichen Rhetorik. Daran herrscht ein gewisser Mangel in einem Land, das regiert wird von einer Frau, die zu reden pflegt, als verlese sie das Kleingedruckte aus der Geschäftsordnung des Bundestags. Es war jedoch keineswegs so, dass Gauck nach seiner Wahl postwendend mit fulminanten Reden aufgefallen wäre. Ungeachtet des ihm eigenen, fast überbordenden Selbstvertrauens war ihm zu Beginn seiner Amtszeit großer Respekt vor der neuen Rolle anzumerken. Obwohl ein Fremdling in der Welt der Politik, gewissermaßen als Antipolitiker ins Amt gelobt, ließ er sich nie dazu hinreißen, der weit verbreiteten Politikverachtung seine Stimme zu verleihen.

Dieser Bundespräsident musste sich als Bellizist beschimpfen lassen, als „widerlicher Kriegshetzer“ gar. Gauck sieht seine Mission offenbar nicht darin, die Republik zu versöhnen. Er spaltet sie. Sein Plädoyer für ein stärkeres Engagement Deutschlands in der Welt hat ihm viel Widerspruch beschert – Widerspruch, der ihn nicht unbeeindruckt ließ. Was nicht bedeutet, dass ihn das alles irritierte hätte, soweit es um sein Anliegen selbst geht. Selten hat ein deutscher Präsident so offen und offensiv über ein brisantes Thema gesprochen, das in die aktuelle Tagespolitik hinein reicht.

Seine Volksnähe zeichnet Gauck aus

Gauck, obwohl Herr einer ausgefeilten Sprache, fand nicht jedes Mal die treffenden Worte. Zuletzt hat er mit einer Ansprache in Polen am 75. Jahrestag nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs viele verstört. Er übte harsche Kritik an der Politik Putins, fand es aber nicht für nötig, daran zu erinnern, dass Russland die meisten Opfer in jenem Krieg zu beklagen hatte: mehr als 20 Millionen Tote. Diese einäugige historische Perspektive ist nur aus seiner Vita zu verstehen: aus dem oppositionellen Ossi wurde eine Art Besserwessi, wenn es um sein Generalthema Freiheit und die Werte des Westens geht. Da kann Gauck offenbar nicht aus seiner Haut.

Er macht sich aber angreifbar, wenn er zwar harte Worte an die Adresse Putins richtet oder an die des türkischen Autokraten Erdogan, aber nicht den gleichen Mut aufbringt, etwa die Globalspionage der Amerikaner kritisch anzusprechen. Da blieb Gauck seltsam wortkarg.

Zu Beginn seiner Amtszeit kokettierte der elfte Bundespräsident damit, dass er sich eigentlich als gewöhnlicher Bürger verstehe. Er hoffe auch, so sinnierte er bisweilen, wenigstens einen Teil des Bürgers Gauck in die präsidiale Welt hinüber zu retten. Das ist ihm in vielerlei Hinsicht gelungen. Wer ihn je persönlich erlebt hat, der ist gewiss nicht mit dem Eindruck nach Hause gegangen, einem republikanischen Monarchen begegnet zu sein. Gegen Eitelkeit ist Gauck zwar nicht gefeit, doch zeichnen ihn Volksnähe und eine alles andere als großspurige Art aus.

Und auch in seinem Denken ist der Präsident dem Bürger Gauck treu geblieben.