Seit der Charlottenplatz wieder von mehr Bahnen angesteuert wird, ist das Leben zurückgekehrt. Auch die Kundschaft ist wieder da. Doch die Durststrecke hätte manche Kioske beinahe die Existenz gekostet.

Digital Desk: Sascha Maier (sma)

Stuttgart - Es waren entbehrungsreiche eineinhalb Jahre. Als die Stadtbahntrasse zwischen dem Hauptbahnhof und dem Charlottenplatz wegen Bauarbeiten an der Haltestelle „Staatsgalerie“ im Zuge von Stuttgart 21 gesperrt wurde, brach den Einzelhändlern am Charlottenplatz der Umsatz ein – bis zu 50 Prozent, wie Kioske beklagten. Seit gut einem Monat ist die Strecke wieder offen. „Und es ist nicht nur schön, dass der Umsatz wieder stimmt“, sagt Stefan Kallenberg, Inhaber des Kiosks Berner II, „auch die Stammkundschaft, die während der Zeit auf andere Strecken ausweichen musste, habe ich sehr vermisst.“

 

Kallenberg unterbricht das Gespräch höflich, die Warteschlange ist zu lang geworden. Schulkinder kaufen Süßigkeiten, eine ältere Bahnreisende Zeitungen, zwei junge Männer in Jogginghosen lösen ihre Lottoscheine ein. Es scheint, als sei alles wieder so, wie es aus Sicht eines Kioskbetreibers sein sollte.

Diesen Eindruck bestätigt Ulrich Berner, der Kioskchef vom Berner I am gegenüberliegenden Gleis. „So gut wie früher ist es zwar nicht“, sagt er. Aber dafür seien auch die Bettler nicht zurückgekommen, gegen die er zwar nichts habe, die aber auch nicht gut fürs Geschäft seien. Nachdem der Streckenabschnitt gesperrt worden war, sind auch sie aus der Haltestellenunterführung verschwunden; zu wenig Passanten, mutmaßten die Anrainer.

Nur durch einen Bankkredit gerettet

Heute genießt Julius Kalocski am Charlottenplatz ein Bad in der Menschenmenge. Der Verkäufer der Obdachlosenzeitschrift „Trott-war“ ward hier in den vergangenen Monaten nur selten gesehen. „Es war nix los“, sagt er.

Darum sei der dreifache Familienvater meistens an die Haltestellen „Vaihingen“ oder „Feuerbach“ ausgewichen, wo mehr los gewesen sei. „Gut, dass ich jetzt auch hier wieder viele Zeitungen verkaufen kann: Ich muss Reparaturen in meiner Wohnung in der Slowakei erledigen“, sagt Kalocski.

Das Tal der Tränen, durch das die Menschen, die wirtschaftlich vom Charlottenplatz abhängig sind, wandern mussten, war tief, und die Nachwehen sind auch heute noch spürbar. Womöglich hätten sich die Schäden in Kalocskis Wohnung nicht weiter ausgebreitet, wenn er sie früher hätte beheben können. Auch wenn Stefan Kallenbergs Kioskgeschäft wieder ungefähr so gut läuft wie früher: An einen großen Sommerurlaub denkt er wohl gerade noch nicht. „Ich habe einen Bankkredit aufnehmen müssen, um in dieser schwierigen Zeit zu überleben“, sagt er.

Die Ansage der Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) vor eineinhalb Jahren war: Fünf Prozent Umsatzeinbußen für den Zeitraum der Streckensperrung. So wurde es bei einer Infoveranstaltung im Dezember 2015 kommuniziert. Von fünf Prozent sind die Berichte aller Einzelhändler am Charlottenplatz weit entfernt. Die Kneipe Wikinger, die noch am besten weggekommen ist, sprach von 20 bis 30 Prozent Umsatzeinbußen. Dennoch hat die SSB 2016 „keinen weiteren Gesprächsbedarf am Charlottenplatz gesehen“, wie Birte Schaper, eine Sprecherin des Unternehmens, mitteilt. Die aktuellen Vorgänge bewertet sie so: „Die Umstellung auf das Netz 2018 verlief bisher ruhig und störungsfrei, die Fahrgäste sind in der Mehrzahl gut orientiert und informiert.“ Wie zu erwarten sei, beobachte die SSB deutlich mehr Umsteiger an der Haltestelle „Charlottenplatz“. Immerhin darüber dürfte Einigkeit herrschen.

Keinen Gesprächsbedarf gesehen

Besonders bitter für die Einzelhändler: Ursprünglich hätte die Trasse sechs Monate früher wieder für den Schienenverkehr geöffnet werden sollen. Von der Verzögerung erfuhren die Händler aus der Zeitung. Aber auch die neue Streckenführung der SSB, die seit 10. Dezember gilt, stößt nicht auf Gegenliebe: Jetzt Fahren keine Bahnen mehr vom Bahnhof zur Staatsgalerie. Und vom Süden kommt man nicht mehr ohne Umstieg zum Hauptbahnhof durch.