Handball-EM Wo das Hauptproblem des deutschen Handballs liegt

Für Julian Köster hat sich durch die desolate Coronalage innerhalb des deutschen Teams eine Chance aufgetan, die er genutzt hat – nun muss der nächste Schritt folgen. Foto: imago images/wolf-sportfoto/Marco Wolf via www.imago-images.de

Obwohl die EM eher einem gesundheitlichen Vabanquespiel gleicht, als einem sportlichen Wettbewerb, wirft sie die Frage auf, wo der deutsche Handball steht – und warum es trotz der großen Breite nicht gelingt, Spieler an die Weltspitze zu führen.

Sport: Jürgen Frey (jüf)

Stuttgart - Dieser lodernde Coronaherd ist nicht einzudämmen. Die neuen Infektionen von Patrick Wiencek und Simon Ernst sind die Fälle 14 und 15 bei der deutschen Handball-Nationalmannschaft. Vor dem letzten EM-Spiel an diesem Dienstag (18 Uhr/ZDF) gegen Russland verzichtet der Deutsche Handballbund (DHB) jedoch auf Nachnominierungen. Stand Montag stehen 14 einsatzfähige Spieler zur Verfügung. Dass Bundestrainer Alfred Gislason bei diesem gesundheitlichen Vabanquespiel trotz der vielen Ausfälle immer noch eine wettbewerbsfähige Mannschaft aufbieten kann, zeigt, dass der Pool an Spielern in Deutschland so groß ist wie bei keiner anderen Nation.

 

Diese Feststellung ist nicht neu. Genauso wie die Tatsache, dass die Torhüter, die Abwehr und ganz grundsätzlich die deutschen Tugenden wie Einsatz, Wille, Disziplin und Teamgeist nicht das Problem darstellen. Es sind individuelle Ausnahmekönner auf den Schlüsselpositionen im Rückraum, die fehlen. „Manchmal ist unsere starke Breite sogar ein Nachteil, möglicherweise kümmern wir uns immer noch um zu viele Talente. Vielleicht müssen wir trotz der Eliteförderung unser Konzept überdenken. Andere Nationen konzentrieren sich mit speziellen Trainern ausschließlich auf eine Handvoll Toptalente“, sagt Junioren-Bundestrainer Martin Heuberger.

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Der Talentschmied aus der Ortenau hat schon einige Titel mit den deutschen Nachwuchsteams bei Europa- und Weltmeisterschaften abgeräumt. Doch ein Superstar des deutschen Handballs für die A-Nationalmannschaft entwickelte sich daraus nicht. Woran das liegt? Benjamin Matschke, Trainer des Bundesligisten HSG Wetzlar mit schwäbischen Wurzeln, hat Erklärungen parat. Zum einen liege es am Selbstverständnis in Deutschland, was den Spitzensport betrifft. „Bei uns ist ein talentierter Spieler in den seltensten Fälle bereit, die All-in-Karte zu ziehen und voll auf Handball zu setzen. Für ihn ist die Ausbildung, das Studium, manchmal auch der Arbeitsplatz für die Freundin wichtig“, sagt Matschke. Für einen 19-jährigen Mazedonier oder Schweden würde dagegen einzig und allein der Handball zählen. „Da tut sich kein Elternhaus schwer damit, den Junior in ein fremdes Land ziehen zu lassen. Das ist bei uns anders.“

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Hinzu kommt das Problem mit der Anschlussförderung. In seiner Zeit bei den Eulen Ludwigshafen trainierte Matschke insgesamt 17 Junioren-Nationalspieler. „Nur drei davon schafften den Sprung in die Bundesliga“, so der frühere Spieler des TV Kornwestheim. Was er damit sagen will: „Natürlich haben wir die stärkste zweite Liga, die beste dritte Liga der Welt. Aber wir müssen es schaffen, dass die Spieler bei den Vereinen ganz oben in der Bundesliga ankommen, dort ihre Spielpraxis bekommen und sich vor allem auf hohem Niveau weiterentwickeln.“

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Eine schlüssige Karriereplanung ist das A und O dabei. Deshalb blicken jetzt auch alle gespannt auf den weiteren Weg von Julian Köster. Der Zweitligaspieler vom VfL Gummersbach war bei der EM der mit Abstand größte Gewinner der Coronalotterie. „Ehrlich gesagt, hat er mich im Angriff überrascht. Er bestach durch enorme Wurfvariabilität, mit beeindruckenden Schlag- und Sprungwürfen, mit genialen Anspielen an den Kreis, und im Eins-gegen-eins ging er dahin, wo es wehtut“, lobte ihn Heuberger. „Sein Stern wäre nicht in dem Maße aufgegangen, wenn sich Julius Kühn und Sebastian Heymann nicht infiziert hätten.“

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Was Heuberger dem 21-Jährigen für die weitere Karriereplanung empfiehlt: „Mit Gummersbach aufsteigen, in der Bundesliga eine Führungsrolle übernehmen, dann gezielt den nächsten Schritt wählen.“ Dass der entscheidend sein kann, zeigt das Beispiel Marian Michalczik. Die vielversprechende Laufbahn des abwehrstarken Rückraumriesen ist ins Stocken geraten. Dabei hatte sich vor zwei Jahren die halbe Bundesliga um den damals 22-Jährigen von GWD Minden gerissen. Er entschied sich für den Wechsel zu den Füchsen Berlin. Doch dort drückt er hinter Paul Drux und internationalen Topleuten wie Lasse Andersson und Jacob Holm oft die Bank. „Vielleicht wäre für Marian ein anderer Zwischenschritt besser gewesen“, sagt Matschke. Ob es bald einen neuen Handball-Superstar geben wird, kann er nicht sagen, Matschke weiß nur eines: „Die Sehnsucht in Deutschland danach ist groß. Wie sehr Köster von den Medien gehypt wird, zeigt das.“

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