Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Herr Rockenbauch, warum bewerben Sie sich eigentlich für das höchste kommunalpolitische Amt in einem politischen System, das Sie für ziemlich schlecht halten?
Die Verhältnisse bringt man nur zum Tanzen, wenn man mit ihnen tanzt. Ich habe immer Lust gehabt, dorthin zu gehen, wo es wehtut, also mittendrin zu sein und nicht nur außerparlamentarisch zu arbeiten. Man kann jetzt schon gestalten – man muss nicht auf irgendeine Revolution warten, davon halte ich gar nichts.

Wie gefallen Sie sich in der Rolle eines Widerstandskämpfers, der vom Podium herab Tausende von Menschen anstachelt?
Gar nicht! Ich kann motivieren und reden, aber das ist nicht das, was mich interessiert. Mir geht es darum, dass die Menschen Gelegenheiten bekommen, ihre Zukunft mitzugestalten. Die Leute sollen mehr Einfluss nehmen können auf ihr Umfeld. Dort sind sie noch Experten. Das soll in einem Mix aus repräsentativer und direkter Demokratie stattfinden. Ich habe Lust, die Menschen dafür zu begeistern.

Sie gehen bei Ihrem Gedankenspiel offensichtlich von Menschen aus, die genauso politiksüchtig sind wie Sie selbst. Das könnte am Ende eine sehr kleine Zahl sein.
Ich glaube, dass sich eine Kultur der politischen Beteiligung erst entwickeln muss. Sie muss von unten aufgebaut werden, also fangen wir in den Stadtteilen damit an. Heute haben doch viele Menschen allein deshalb keine Lust auf die Politik, weil sie das Gefühl haben, dass die eigentlichen Entscheidungen woanders gefällt werden. In Hinterzimmern beispielsweise oder im Weinberghäusle, in dem sich der IHK-Chef mit dem Flughafenchef und anderen trifft.

Viele Stuttgarter sind stolz auf den wirtschaftlichen Erfolg der Stadt: auf Daimler, Porsche und andere Betriebe. Da wirken Sie wie ein Störenfried.
Wir leben hier in einer der exportstärksten Regionen eines exportstarken Landes. Aber wir leben auch auf Kosten anderer Länder. Noch befinden wir uns auf einer Insel der Glückseligen, aber nicht mehr lange. Die globalen Verteilungskämpfe werden uns genauso einholen wie der Klimawandel. Ich will die Menschen einladen, sich auch mit den Konsequenzen ihres Wohlstands zu beschäftigen und dann Entscheidungen über ihre Zukunft zu treffen.

Und wenn die Leute aus Ihrer großen Pädagogikanstalt herauskommen, werden sie zur Vernunft gekommen sein?
Nein. Politik ist kein Umerziehungslager. Es geht mir darum, dass die Bürgerinnen und Bürger gemeinsam aushandeln, was ihnen wichtig ist. Und meine Haltung ist die: bei aller Freiheit besitzen die Menschen auch eine Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen, gegenüber anderen Ländern und anderen Bevölkerungsschichten, besonders den Einkommensschwachen.

Sie selbst sind ein Freund der Symbolpolitik: Sie haben den Nordflügel des Bahnhofs besetzt und die eine oder andere Sitzung demonstrativ verlassen. Kommt das bei Ihnen aus der Emotion heraus oder handeln Sie nur aus Kalkül?
Das waren bewusste Aktionen. Handeln und Politik gehören für mich zusammen. Politik darf sich nicht in Sonntagsreden erschöpfen.

Bereuen Sie im Nachhinein eine ihrer barrikadenstürmerischen Aktionen?
Nein. Wenn man in bestimmten Situationen etwas Untragbares erlebt, gehört es dazu, dass man aufsteht und mit den Verhältnissen bricht. Ziviler Ungehorsam gehört für mich dazu.

Im Frühjahr sind Sie erstmals Vater geworden. Wie hat Ihre kleine Tochter Ihren Blick auf die Welt verändert?
Seit wir sie haben, ist mein Leben entspannter und geerdeter geworden. Ihre Geburt hat in mein Leben eine innere Ruhe reingebracht. Meine Tochter macht mein Leben noch reicher, und mir ist auf eine Art klar geworden, dass Politik auch nicht alles ist. Politisch zu sein, war für mich eine Lebenseinstellung – jetzt hat das Private mehr Gewicht bekommen, das ist einfach schön. Leider kommt es im OB-Wahlkampf derzeit noch zu kurz.