Nirgends sonst spürt man den französischen Esprit so wie in den Pariser Vierteln links der Seine. Was diesen „Élan vital“ und die Quartiers so einzigartig macht, das erklärt der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil im Interview.

Paris - Der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil fährt seit Jahrzehnten regelmäßig nach Paris. Seinen Lieblingsquartiers hat er sein neues Buch „Paris, links der Seine“ (Insel-Verlag, 22 Euro) gewidmet. Ein Gespräch.

 
Herr Ortheil, was fasziniert Sie am Quartier Latin und Saint-Germain-des-Prés?
Das 5. und 6. Arrondissement sind die ältesten Bezirke, direkt an der Seine gelegen. Sie bilden das alte Herz von Paris. Hier entwickelten sich die Gründungsgeschichten von Fotografie und Film, und hier wirkten Theater, Literatur, Künste und Musik seit Jahrhunderten eng zusammen. Nicht zu vergessen die Philosophie, die das Bindeglied war und deren Denker die Begriffe für das jeweils aktuelle Raunen bereitstellten. Es sind auch die Bezirke der seit dem Mittelalter bestehenden großen Kollegien und Universitäten, mit einer einzigartigen, befruchtenden und kreativen Intelligenz, wie es sie etwa in Deutschland erst sehr viel später gegeben hat. Noch heute habe ich oft das Gefühl, dort geradezu eine Art Kreativitätsdusche zu erhalten, wenn ich mich mal wieder in diesen Arrondissements aufhalte.
Ist es dieses Klima der Inspiration, das Paris von anderen Großstädten unterscheidet?
Diese Art des französischen Denkens gibt es nirgends sonst. Sie geht von den eigenen Lebenserfahrungen aus und schlägt aus ihnen theoretisches Kapital. Und das auf so nachvollziehbare und inspirierende Weise, dass andere, auch Fremde, daran anknüpfen können. Der Ursprung ist das Private, Intime, das wird nach außen gewendet und ins Gespräch eingebracht. Von Henri Bergson, einem der großen französischen Philosophen, stammt der Ausdruck „Élan vital“. Er meinte damit einen besonderen Spirit, etwas Feinnerviges, Zupackendes, das die Welt in all ihren Nuancen einfallsreich begreifen, durchdringen und beschreiben will.
An welchen Orten spürt man diesen Élan vital?
Vor allem natürlich in den Cafés und Bars dieser Viertel. Ins Café geht man nicht nur, um etwas zu trinken, sondern auch, um sich lange zu unterhalten. Schon seit der Aufklärung gibt es diese speziellen Treffpunkte. Die Cafés sind legendär, das sind geradezu kultische Etablissements.

Eine der seltsamsten Straßen ist die Rue Racine

Zwei der berühmtesten sind das Café Les Deux Magots und das Café de Flore, die Sie jedoch als Orte beschreiben, die ihre beste Zeit hinter sich haben.
Diese Cafés sind an ihrem eigenen Ruhm erstickt. Aber es lohnt sich noch immer, sie zu besuchen, schon wegen ihrer Architektur und all der Rituale, denen Kellner und Gäste so ergeben folgen wie seit vielen Jahrzehnten. Länger verweilen würde ich dort allerdings nicht, da gibt es lebendigere Orte.
Zum Beispiel die Rue Racine?
Das ist eine der seltsamsten und verblüffendsten Straßen mit einem kunterbunten Gemisch von Spezialläden. Da gibt es eine der größten Vinotheken, einen Herrenausstatter, der vor Jahrzehnten aus England kam, ein Geschäft mit den besten korsischen Messern oder einen Blumenladen, dessen Besitzer die Gedichte französischer Klassiker mit seinen Bouquets interpretiert. Es ist eine Straße voller spleeniger Enthusiasten, die sich einer einzigen Sache verschrieben haben und ästhetische Perfektion anstreben.
Zu zwei Personen dieser Viertel fühlen Sie eine besondere Verbundenheit. Es sind Marguerite Duras und Roland Barthes. Woher rührt das?
In diesen Vierteln gab es immer extreme Gruppenbildungen, etwa die der Surrealisten, Kubisten, Existenzialisten. Marguerite Duras und Roland Barthes dagegen waren Einzelgänger, sie gehörten nie einer Gruppe an. Duras war eine wunderbare Schriftstellerin, die jahrzehntelang sehr unauffällig dort lebte und deren genauen Tagesablauf doch jeder Nachbar kannte: wo sie morgens einkaufte und mittags aß. Immer im selben Restaurant, das es heute noch gibt (Le Petit Saint Benoît, Rue Saint-Benoît). Duras war keine Theoretikerin. Sie beschrieb Menschen mit starker Einfühlsamkeit, sie interessierte sich für die Pariser und die Geschichten ihres Lebens.

Hemingway beschreibt sehr genau die kleinen Pariser Tagesrituale

Und Roland Barthes?
Roland Barthes wohnte jahrzehntelang in einer Hinterhauswohnung, in der Nähe des Jardin du Luxembourg, und auch er plante seinen Tagesablauf so penibel, dass sich andere daran orientieren konnten. Er hat über sehr unterschiedliche Themen derart genau nachgedacht wie kein anderer Schriftsteller in dieser Zeit, er war ein Genie des Theoretischen. So hat er zum Beispiel eine Theorie der Fotografie, der Liebe oder des Romans entworfen. All diese Leidenschaften hat er mit der gleichen intuitiven Kraft behandelt. Duras und Barthes haben mich durch ihr jeweils singuläres, eng mit Paris verbundenes Werk für sich eingenommen.
Sie selbst haben Paris vor allem durch die Augen Hemingways kennengelernt, als Sie mit Ihrem Vater die Stadt besuchten. Damals waren Sie 14. Wie war das?
Das alte Herz von Paris in der Mitte der 1960er Jahre kann man kaum mit dem heutigen vergleichen. Es war dörflich, ärmlich, dunkel und viel schlichter. Damals war von Hemingway „Paris – ein Fest fürs Lebens“ erschienen, das sind die Erinnerungen an seine Pariser Zeit in den 1920er Jahren, als er dort als Korrespondent mit seiner ersten Ehefrau lebte. Hemingway erzählt lauter Geschichten von Schriftstellern und Künstlern aus der exzentrischsten Pariser Epoche. Sie spielen an konkreten Orten, die ich Jahrzehnte später aufsuchte, um zu schauen, ob sich etwas von Hemingways Beobachtungen erhalten hatte. Und das hatte es, haargenau. Es hat mich enorm fasziniert, wie jemand diese Atmosphären so treffend beschreiben konnte. Eine Zeit lang habe ich vor lauter Begeisterung versucht, seinen Stil zu imitieren.
Hat Sie damals die Liebe zu Paris ergriffen?
Absolut. Die kleinen Tagesrituale etwa beschreibt Hemingway sehr genau: Irgendwo Platz nehmen, Zeitung lesen, einen ersten guten Schluck trinken, ein zweiter Gast kommt hinzu, die Unterhaltung beginnt, man wechselt das Etablissement. Es ist ein dauerndes Unterwegssein, vom Schreiben und Arbeiten unterbrochen. Das Schreiben und Arbeiten unter anderen Menschen und im Freien ist sehr charakteristisch für Paris. Als ich in den 1970er Jahren studiert habe, sah ich Sartre draußen vor einem Café, sitzend und schreibend. Die Autoren wollten das soziale Fluidum spüren und sich nicht ins stille Kämmerlein zurückziehen.

Den Rundgang beginnt man an der Notre-Dame

Kann ich das als Fremder auch erleben?
Aber ja, man wird doch sofort eingebunden in das, was „Conversation“ genannt wird. „Conversation“ ist extrem eindringliches, manchmal auch lautes, passioniertes Sprechen. Kein schlichter Dialog, sondern Monologe, die aufeinander antworten und reagieren, oft sehr theatralisch. Das ist großes soziales Schauspiel, bei dem jeder willkommen ist.
Für wen ist Ihr Buch gedacht?
Für alle Parisfahrer, die keinen Reiseführer, sondern ein Buch lesen wollen, das ihnen die Geschichten der Häuser und ihrer Menschen auf intime Weise erschließt. Aufgrund der vielen Hintergrundinformationen taucht man tief in das sonst verborgene Pariser Leben ein.
Und wo startet man den Rundgang?
Genau dort, wo ich auch im Buch beginne. Vor Notre-Dame. Da steige ich auf die Türme der Kathedrale und schaue von oben herab auf meine beiden Arrondissements – und dann stürze ich mich in ihr pralles Leben, begegne kaum 100 Meter von Notre-Dame entfernt bereits Kommissar Maigret und sitze mit ihm in einem seiner Lieblingslokale, mit Blick auf die Seine.