Die frühere Stasiunterlagen-Beauftragte Marianne Birthler und der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio wurden mit dem Schleyer-Preis ausgezeichnet – und richteten bei dieser Gelegenheit eindringliche Worte an die Regierenden.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Die Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft ist ihr Leitmotiv – vor allem deswegen wurden die frühere Stasiunterlagen-Beauftragte Marianne Birthler und der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio mit dem Hanns Martin Schleyer-Preis 2014 und 2015 ausgezeichnet. Die Verleihung findet stets im Zwei-Jahres-Rhythmus statt.

 

Kein Wunder, dass am Freitagabend im Stuttgarter Neuen Schloss viel von Freiheit die Rede war. Marianne Birthler gehörte zu den maßgeblichen Figuren, die das Ende der DDR herbeiführten. „In ihrer Biografie spiegelt sich die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung und der damaligen Opposition“, wie der Laudator und Publizist Karl Wilhelm Fricke feststellte. Öffentlich habe sie, ein „Sakrileg für die SED“, noch vor dem Fall der Mauer die Machtfrage gestellt – „klug, mutig, unerschrocken“.

Die Politikerin von Bündnis 90/Grüne nennt die Zeit von Herbst 1989 bis Herbst 1990 das „aufregendste und glücklichste Jahr nicht nur in meinem Leben“. Doch wäre es besser gewesen, wenn man einen besonnenen Weg in die Einheit gewählt hätte: mit einer Volksabstimmung in beiden Teilen Deutschlands. „Dann wäre die spürbare mentale Kluft heute vielleicht weniger groß geworden“, sagt die 67-Jährige. Nach 25 Jahren der Einheit bedürfe es der Festigung der Grundlagen des freiheitlichen Gemeinwesens. „Ohne Zuversicht werden wir nichts bewegen“, mahnte sie.

Europa im Zentrum des Schaffens

Der zweite Laudator Paul Kirchhof, selbst einst Bundesverfassungsrichter, würdigte Udo Di Fabio vor allem als einen „Meister der Sprache“ – mit „Feuer, Empörung und Heiterkeit“. Viele literarische Gedanken und richterliche Kraft hätte dieser dem Thema Europa gewidmet. Dass der Antrieb nicht nachlässt, bewies der Geehrte in seinem Festvortrag. Eindringlich warnte der 61-Jährige vor einer „schleichenden, aber hartnäckigen Legitimationskrise“ des westlichen Gesellschaftsmodells – auch in Europa, das etwa mit den Folgen der Finanzkrise, der Integration neuer Länder und dem Druck von außen durch immer mehr Flüchtlinge zu kämpfen hat. In der EU müsste die Gemeinschaft neu gefestigt werden, sagte er. „Die Politik muss wieder näher an die politischen Vertragsgrundlagen rücken.“

Die Mentalität im „wankenden Westen“ sei „verkantet durch ein Übermaß der monetären Instrumente“, monierte Di Fabio. Statt alles „mit der Finanzschraube zu regulieren“, müsse man zurück zu vernünftigen Formen des Wirtschaftens und der Staatlichkeit. Es gelte, neu über Grundlagen nachzudenken, die weniger mit Fiskalsteuerung zu tun hätten und näher an den Bürgerrechten seien. Der Begriff der Zivilgesellschaft müsse neu erfunden werden. „Zivilgesellschaft – das sind wir alle.“ Der Bürger müsse verstehen, dass er keiner Dienstleistungsrepublik gegenüberstehe, sondern dass dies „seine Republik“ sei.

Bernhard Vogel erinnert an Hanns Martin Schleyer

Zuvor hatte der frühere Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Thüringen, Bernhard Vogel (CDU), an Hanns Martin Schleyer erinnert, der am 1. Mai hundert Jahre alt geworden wäre. Ein Attentat beendete sein Leben jedoch frühzeitig: Am 18. Oktober 1977 wurde der damalige Arbeitgeberpräsident von der Roten Armee Fraktion (RAF) ermordet. Vogel schilderte, dass er wenige Minuten vor der Entführung noch mit Schleyer telefoniert hätte – es sei das letzte Telefongespräch seines Lebens gewesen.

Die beiden verband eine enge Freundschaft: In regelmäßigen Treffen in Schleyers Jagdhaus auf der Schwäbischen Alb habe man ungewöhnlich intensive, aber auch fröhliche Unterredungen gehabt. Obwohl er, so Vogel, infolge der Entführung der Lufthansa-Maschine „Landshut“ durch eine Gruppe palästinensischer Terroristen Verständnis für die schwierige Situation der Krisenstäbe gehabt hätte, die sich gegen eine Freipressung inhaftierter RAF-Terroristen aussprachen, so habe ihn nach der Entführung das Gefühl „der Machtlosigkeit, des Zorns und des Mitleids“ beherrscht.

1988 wurden zwei zu lebenslanger Haft verurteilte RAF-Angehörige vom damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten begnadigt. Abgeschlossen sei die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aber nicht – „es gibt keinen Schlussstrich“ und auch „kein Recht auf Wegsehen“, sagte Vogel im Neuen Schloss. „Hanns Martin Schleyer ist nicht umsonst gestorben“, resümierte der Christdemokrat. „Er hat der Freiheit und Demokratie unter Opferung seines eigenen Lebens den höchsten Dienst erwiesen.“