Hans Filbinger hat Baden-Württemberg erst zu dem gemacht, was es heute ist. Doch scheiterte er an seinem Unvermögen, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen. Zum 100. Geburtstag erinnert die Landeszentrale für politische Bildung an den CDU-Politiker.

Stuttgart - Unter den Kennern der jüngeren Landesgeschichte gibt es nicht wenige, die Hans Filbinger für den bedeutendsten Nachkriegs-Ministerpräsidenten Baden-Württembergs halten. Der CDU-Politiker baute das Bildungswesen aus, bastelte zusammen mit dem SPD-Innenminister Walter Krause die Kommunalreformen und bildete in der Bundespolitik gemeinsam mit Franz-Josef Strauß die konservative Speerspitze der Union. Mit Filbinger verbindet die Landes-CDU ihre größten Wahlerfolge weit jenseits der 50-Prozent-Marke, doch in der Erinnerung blieb er eigentlich immer nur der von dem Schriftsteller Rolf Hochhut so gebrandmarkte „furchtbare Jurist“ und einstige Marinerichter, der sich an seine Todesurteile partout nicht mehr erinnern wollte.

 

In diesem September wäre Filbinger 100 Jahre alt geworden – was die Landeszentrale für politische Bildung zum Anlass für ein „Zeitzeugengespräch“ nahm. Schnell landeten die Diskutanten beim Marinerichter Filbinger. Dieser bestand bis an sein Lebensende darauf, dass letztlich kein Mensch durch ihn zu Tode gekommen sei, auch wenn er als Marinerichter an einigen wenigen Todesurteilen beteiligt gewesen war. Bei zwei Todessprüchen handelte es sich für Filbinger nur um „Phantom-Urteile“, weil sie in Abwesenheit der Angeklagten ergangen waren. Beim bekanntesten Urteil, dem gegen den fahnenflüchtigen, in eine Norwegerin verliebten Matrosen Walter Gröger, habe er die Aufgabe erst übernommen, als dem Mann nicht mehr zu helfen gewesen sei.

Der frühere EnBW-Vorstandschef Gerhard Goll, 1978 während der Agonie Filbingers ein junger Beamter im Staatsministerium, berichtete von dem Gespräch des damaligen Regierungschefs mit einem „Zeit“-Redakteur, aus dem der berühmte Satz stammt: „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein.“ Ganz so habe Filbinger das damals nicht gesagt, erzählte Goll. Und ganz so gemeint habe er es auch nicht. Filbinger habe sagen wollen, dass in allen Kriegsnationen auf Fahnenflucht die Todesstrafe gestanden habe.

Kein klärendes Wort

Interpretiert man Golls Interpretation von Filbingers Äußerungen, könnten diese so gemeint gewesen sein: Rückblickend möge man die damaligen Entscheidungen für falsch halten, so seien sie zu jener Zeit eben doch Recht gewesen. Doch auch Goll räumte ein, dass es unmöglich gewesen sei, Filbinger zu einem klärenden öffentlichen Wort zu bewegen. „Abends war er bereit zu einer Art Entschuldigung, morgens kam er wieder ins Staatsministerium und sagte: Nein.“ Was sich Goll wiederum nur so erklären kann, dass Filbinger die Marinerichter-Vergangenheit nicht als Gegenstand historischer Aufarbeitung verstand, sondern als Waffe des politischen Gegners, um ihn zu vernichten. Hätte Filbinger die Kraft zu einem entschuldigenden Satz gehabt, so merkte die frühere Bundesjustizministerin und SPD-Politikerin Herta Däubler-Gmelin an, wäre wohl alles anders gekommen.

Er brachte diese Kraft aber nicht auf. Filbingers Tochter Susanna fand in den erst kürzlich entdeckten Tagebüchern ihres Vaters den Satz: „Der Stolz war ein mächtiger Verführer.“ So entstand, wie sich Manfred Zach, heute Beamter im Sozialministerium und Buchautor („Monrepos oder die Kälte der Macht“), erinnerte, in der Regierungszentrale jene für Krisensituationen charakteristische „Wagenburg-Mentalität“, die in Rechthaberei mündete. Filbinger sei von der Angst gepeinigt gewesen, dass „alles ins Rutschen kommt, wenn ich an einer Stelle nachgebe“. Es handle sich um ein generelles Problem in der Politik: die Angst, Macht und Einfluss zu verlieren, wenn man an irgendeinem Punkt eine Schwäche offenbart. Für Zach verhielt sich Filbinger außerdem „generationentypisch“. Denn: „Viele Väter wollten, als sie aus dem Krieg heimkehrten, nicht darüber reden, was sie erlebt und vielleicht getan hatten.“

Die Filbinger-Affäre hatte aber auch ihr Gutes. Der Grünen-Politiker Rezzo Schlauch, in der Blüte seines politischen Schaffens Fraktionschef im Bundestag, erkennt in ihr einen Katalysator, der die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit beschleunigte. „Wir sind in unsere Heimatregionen gegangen und haben gefragt, was da los war im Krieg.“ Schlauch etwa stieß auf die Männer von Brettheim, die von der SS und der Mehrheit zu Tode gebracht wurden, weil sie in den letzten Kriegswochen einigen Hitlerjungen die Waffen weggenommen hatten, um sie vor dem Heldentod zu bewahren – drei einfache Männer, die in ihrem Lebenskreis schon damals und ganz ohne Jura-Studium erkannt hatten, dass das Recht in der Diktatur zum Unrecht wird.