Der Politikwissenschaftler Hans-Georg Wehling hält die Grünen für einen konservative Partei – und hat einen Tipp, wenn dereinst die Nachfolge von Winfried Kretschmann als Ministerpräsident ansteht.

Reutlingen - Am 4. Januar feiert der Doyen der politischen Bildung, der Tübinger Politikwissenschaftler Hans-Georg Wehling, seinen 80. Geburtstag. Der von ihm 1977 formulierte „Beutelsbacher Konsens“ setzte Leitplanken für die politische Bildungsarbeit in Deutschland. Der Landespolitik ist er bis heute ein kritischer Kommentator.

 
Herr Professor Wehling, es ist nicht lange her, da präsentierte sich die Bundesrepublik als ein liberales, den Grundsätzen der Aufklärung verpflichtetes Gemeinwesen. Inzwischen macht sich ein illiberaler Geist bemerkbar, Demokratieverachtung ist fast schon chic. Was läuft da schief?
Das Bewusstsein für den Wert der Demokratie schwindet. Es ist nicht weg, aber auch nicht so ausgeprägt, wie es für die Stabilität der Demokratie langfristig notwendig ist. Dafür lassen sich Gründe finden. Einer davon ist der Verlust von positiven Vorbildern in der Politikerklasse. Die politische Bildung kann nicht mehr erreichen, als die Politik vorlebt. Wenn Politiker sich wechselseitig runtermachen, dann schadet dies der Demokratie.
Zu den Selbstgewissheiten der aufgeklärten Gesellschaft zählt die Einschätzung, dass ihr Vorrat an Aufgeklärtheit ständig zunehme. Eine Fehlannahme?
Vielleicht haben wir uns davon täuschen lassen, dass es nach dem Nationalsozialismus zumindest formal mit der Verankerung der Demokratie rasch voranging. Das hat mich zunächst verblüfft. Aber das Alte war diskreditiert, man hat sich schnell nach der Decke gestreckt.
Was kann politische Bildung leisten in der aktuellen Lage? Sie haben Ende der 1970er Jahre den Beutelsbacher Konsens formuliert – in einer hoch politisierten und polarisierten Zeit. Sie skizzierten drei Leitlinien: der Lehrende darf nicht indoktrinieren, er muss die kontroversen Positionen in Politik und Wissenschaft ausführen, und er muss die Adressaten befähigen, ihre eigene Interessen zu benennen.
Letzteres muss man heute vielleicht modifizieren. Seine eigene Position zu finden ist ein emanzipatives, also berechtigtes Anliegen. Heute kommt es aber wieder mehr darauf an, das zu finden, was alle positiv verbindet – über die persönlichen Interessen hinaus. Es geht um den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Mit diesem Wort sind wir bei Winfried Kretschmann angelangt, der viel vom gesellschaftlichen Zusammenhalt spricht, nicht selten unter Berufung auf einen seiner Vorgänger im Amt des Ministerpräsidenten, den CDU-Politiker Erwin Teufel. Sind die Grünen die neue CDU in Baden-Württemberg?
Dieser Eindruck ist nicht so ganz falsch. Ich habe mich nach der Landtagswahl in Oberschwaben umgeschaut, wo ich mich ja ganz gut auskenne. Im Landkreis Ravensburg gibt es 39 Gemeinden, von denen 19 Gemeinden mehrheitlich grün gewählt haben. Das sind dann allerdings andere Grüne als jene in Niedersachsen oder Berlin.
Sind die Grünen eine konservative Partei?
In Baden-Württemberg sind sie das. Nicht nur wegen Kretschmann, der hat das befördert. Aber er steht nicht allein dafür. Für die Wähler verkörpert er ein vernunftgeleitetes Handeln. Das macht er sehr raffiniert – wenn er zum Beispiel auf eine Frage hin erst einmal gar nichts sagt. Er antwortet nicht gleich, er signalisiert mit der Pause Nachdenklichkeit. Die Botschaft lautet: Ich bin kein Schwätzer. Das kommt gut an.
Nach den Jamaika-Sondierungen lobte er den Grünen-Bundesvorsitzenden Cem Özdemir über den grünen Klee. Weil der sein Parteiamt aber abgibt, setzten sofort Spekulationen über einen Wechsel Özdemirs nach Stuttgart ein. Ist es Zeit für Kretschmann, seine Nachfolge zu regeln?
Die Frage stellt sich gegenwärtig nicht, anders als bei der Bundeskanzlerin. Angela Merkel ist in der Situation der sterbenden Königin, die Blicke richten sich auf andere Granden in der Bundes-CDU. Bei Kretschmann passiert das noch nicht. Er zieht alle Blicke auf sich. Die Leute sagen: Wer denn sonst außer Kretschmann.
Hätten Sie für den Fall der Fälle einen Vorschlag?
Ich halte Boris Palmer, den Tübinger Oberbürgermeister, für den Besten hinter Kretschmann, obwohl sich auch Cem Özdemir im Wahlkampf unheimlich gut gemacht hat. Aber Palmer ist wohl der Klügste. Leider zeigt er keinen Ehrgeiz, dies zu verbergen. Das macht die Sache für ihn schwierig. Aber wenn die Grünen einigermaßen klar im Kopf sind, nehmen Sie ihn als Nachfolger.
Ist denn die SPD nach dem Sturz aus der Landesregierung noch zu retten?
Das frage ich mich auch. Der SPD kommen die Wählermilieus abhanden. Die Fabrikarbeiterschaft im klassischen Sinne gibt es nicht mehr. Der Daimler-Arbeiter mit gutem Einkommen und Jahresbonus: fühlt der sich noch als Arbeiter im herkömmlichen Sinn? Eher nicht. Die SPD-Landesvorsitzende Leni Breymaier spricht als ehemalige Verdi-Landesbezirksvorsitzende nur eine Teilmenge der Wähler an. Das ist zu wenig. Und die Intellektuellen, die sich von Erhard Eppler und Willy Brandt angezogen fühlten, sind am Aussterben. Die SPD muss sich selbst neu erfinden.