Hans Magnus Enzensberger und die Gruppe Franui treiben der Vergangenheit mit Gedichten und mit klassischer Volksmusik alle Verklärung aus.

Ludwigsburg - Früher war alles . . . Nein, noch mal von vorne. Früher war manches anders, aber „ich verlasse mich lieber auf die Vergänglichkeit“, sagt Hans Magnus Enzensberger, „sie lässt keine Rührung / aufkommen, ist beharrlich / und macht vor nichts Halt.“ „Früher“ ist das Gedicht betitelt, das der Dichter und Essayist am Samstagabend im Ordenssaal des Ludwigsburger Schlosses vorliest. Für den heute 88-Jährigen sind die 1980 veröffentlichten Zeilen im Rückblick auf eine Kindheit im Nationalsozialismus nichts weniger als eine böse Abrechnung mit aller Nostalgie, und gerade deshalb passt der alte Mann wie kein anderer zu den Musikern aus Osttirol, die auf der Bühne um ihn herumsitzen.

 

Franui nennen sich die zehn Musiker rund um den Trompeter Andreas Schett, die vor allem als lustvolle, akribische Pathologen in Sachen Klassik bekannt geworden sind. Bewaffnet mit Blasinstrumenten, Hackbrett, Harfe und Zither, hat die Truppe (unter anderem) bei Werken von Schubert, Brahms oder Mahler die Knochen freigelegt – und siehe da: Wo Klassik draufsteht, ist lauter Volksmusik drin. Mit Enzensbergers Essays und Lyrik verbindet Franui aber nicht nur der analytische Blick unter die Oberfläche des Alten und Vergangenen, sondern auch dessen ironische Brechung. So wie der Dichter in „Früher“ erst ein bayerisches Dorfidyll heraufbeschwört und dann, urplötzlich, eine aufgeblähte Wasserleiche auf dem Fluss treiben lässt, so implantieren auch die österreichischen Instrumentalisten subtile Brechungen und Irritationen in die klingende Behaglichkeit. Bei Franui kann man sich nie sicher sein, und bei Enzensberger auch nicht.

Ein sinnliches und intellektuelles Vergnügen

So wird der Abend zu einem ebenso sinnlichen wie intellektuellen Vergnügen. Der Poet liest Amüsantes, Politisches, Böses, Ironisches, wirft auch mal ein schmunzelndes Kommentärchen ein („Jetzt kommt etwas Pathetisches aus den 50er Jahren“), und Franui spielen dazwischen, daneben und darunter vor allem Bearbeitungen (oder sollte man sagen: Rückübersetzungen?) von Brahms‘ „Deutschen Volksliedern“, außerdem a bisserl Schubert. Dabei begibt sich mancher Text Enzensbergers in einen kreativen Dialog zu den in Musik gesetzten Gedichten – zumal dann, wenn die Musiker singend etwa aus Brahms‘ „Rosenmund“ lächelnd einen „großen Mund“ machen. Dass gesund wird, wer Letzteren küsst, steht nicht unbedingt zu erwarten – wie überhaupt nichts wirklich Erwartbares an diesem Abend geschieht, vor allem am Ende, als es musikalisch kräftig mahlert. Als das Hackbrett die Melodie des „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ intoniert, vertraut und doch ganz fremd, sieht man Hans Magnus Enzensberger, der so viele wilde Momente des 20. Jahrhunderts mit klaren Worten kommentiert und die Lyrik politisiert hat, versonnen lächeln. Wie endete noch sein Gedicht „Früher“? „Du fröstelst und du lachst. Du bist gerührt. / Am Gartenzaun blüht immer noch der Flieder.“