Was braucht es, damit ein Trainer 17 Jahre im selben Verein sein Glück findet – und der Verein in ihm? Eine Spurensuche bei Hans Peter Müller-Angstenberger und dem TV Rottenburg.

Rottenburg - Bloß keine Tränen. Mit dieser Maxime und einem recht mulmigen Gefühl geht Hans Peter Müller-Angstenberger an diesem Samstag in den letzten Spieltag der Volleyball-Bundesliga. Denn nach der Partie gegen den TSV Herrsching (19 Uhr, Paul-Horn-Arena Tübingen) geht für den TV Rottenburg nicht nur eine schwache Saison auf dem Abstiegsplatz zu Ende, sondern auch die Ära Hans Peter Müller-Angstenberger. Der 46-Jährige beendet seine Trainertätigkeit – nach 17 Jahren. Und er ahnt, was ihm droht. „Ich würde mich am liebsten leise davonschleichen, ich will kein Denkmal“, sagt er.

 

In solchen Momenten wiegen 17 Jahre schwer. Und sie wecken Neugierde. Was schweißt da zusammen, zumal in einer Branche, in welcher der Trainer bei ausbleibendem Erfolg immer öfter, immer schneller und als Erster vor die Tür gesetzt wird?

Die Gewissheit, am richtigen Ort zu sein

17 Jahre TV Rottenburg sind das Ergebnis einer Genese. Deren Keimzelle und auch diejenige des Volleyballsports in Rottenburg liegt im Eugen-Bolz-Gymnasium. Dort wurde in den 1970er Jahren die Volleyball-Abteilung gegründet, bis heute ist das Gymnasium der große Nachwuchspool des TVR. Aktuell stellt der Club in der U 14 und der U 16 den deutschen Meister. Hans Peter Müller-Angstenberger hat dieses Volleyball-Gymnasium ebenfalls durchlaufen – und unterrichtet bis heute an der Schule die Fächer Deutsch und Religion. Seine Motivation, Trainer zu sein, deckt sich mit der des Lehrers: „Ich wollte immer schon mit Jugendlichen arbeiten und sie in ihrer Entwicklung begleiten.“ Das blieb auch so, als aus dem Jugend- der Bundesliga-Trainer geworden ist. „Meine Spieler bedeuten mir alles, in der täglichen Arbeit gehe ich auf“, sagt Müller-Angstenberger, der die Basis seiner Arbeit einmal so umrissen hat: „Unser Ansatzpunkt ist es, Volleyball nicht über das Geld zu definieren, sondern über die gesellschaftliche Verantwortung.“ Der Beweis, dass dies auch sportlichen Erfolg zeitigen kann, wurde beim TVR mit dem – keineswegs geplanten – Erstligaaufstieg 2006 erbracht. „Wir sind nicht gestartet, um das zu erreichen“, sagt der Trainer.

Die Expertise

Im Bestreben, die athletischen, technischen und taktischen Fähigkeiten in sportliche Höchstleistung umzumünzen und so die Frage zu beantworten, wie es gelingt, „das was ich kann, in dem Moment zu zeigen, wenn es gilt“, hat Müller-Angstenberger intensiv mit dem Sportpsychologen Hartmut Gabler zusammengearbeitet. „Das Training war auf Kommunikation und Kooperation ausgelegt.“ Und es stand häufig unter der Prämisse, wie die psychologische Ebene in das Training eingespeist werden kann. Dies war der Kern seiner Arbeit.

Freundschaften

Die Entwicklung des TVR wurde maßgeblich von einer Gruppe getragen, von der Müller-Angstenberger sagt: „Wir sind alles Freunde hier.“ Zu denen gehört auch der Manager Phillip Vollmer, der seinem „Mentor“ auch ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen Spielern bescheinigt: „Sie durften immer zu ihm kommen, auch mitten in der Nacht. Und er hat in den ganzen Jahren nie ein schlechtes Wort über sein Team verloren.“

Ein Wertekanon, der von allen Entscheidungsträgern geteilt wird

Auch dafür steht der TV Rottenburg: jungen Spielern auch außerhalb des Spielfeldes Perspektiven zu eröffnen, Entwicklungen anzustoßen, ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. „Es geht nicht nur um Volleyball, es geht auch darum, aus Beziehungen etwas Beständiges zu kreieren. Das ist die DNA des TVR“, sagt Müller-Angstenberger. Auch wenn er nun nicht mehr da ist, bleibt dieser ganzheitliche Ansatz im Zentrum, sagt Vollmer: „Wir werden diese Werte nicht einfach über Bord werfen.“

Leidenschaft und Leidensfähigkeit

In Hans Peter Müller-Angstenberger wird der Volleyball-Bundesliga eine Kultfigur fehlen, die im Besonderen mit ihrer extrovertierten Seite Aufsehen erregte. Wenn er erfolgreiche Schmetterbälle mit Derwischtänzen entlang der Seitelinie begleitete und sich niemand gewundert hätte, wenn der Mann im Anzug plötzlich auf das Feld geflogen käme, um sich nach einem aussichtslosen Ball zu werfen, dann war er in seinem Element. „Ich weiß, sagt er, „einige haben mich für einen Spinner gehalten.“

Die andere Seite ist weniger bekannt. Als der TVR am Ende der Spielzeit 2017/18, in der ein auseinanderbrechendes Team nach nur einem Sieg den Club in eine schwere Krise stürzte, zog sich Müller-Angstenberger in ein Kloster zurück. Nach Tagen der Selbstreflexion hatte er sich entschlossen, den Umbruch mitzugestalten. „Nach dem emotionalen Tiefpunkt im Jahr zuvor habe ich viel zurückbekommen“, sucht er das Positive am Ende dieser Saison – und geht nun doch.

Ist das „Rottenburger Modell“ gescheitert?

„Nein“, sagt Müller-Angstenberger: „Nach 17 Jahren ist nicht meine Leidenschaft erloschen, aber Zweifel gewachsen. Vielleicht habe ich ja eine Entwicklung blockiert.“ Gleichzeitig habe sich die sportliche Grenze verschoben: „Die Liga ist in den letzten vier, fünf Jahren ungleich stärker geworden, es ist mehr Geld und mehr Qualität in der Liga.“ Der TVR hat nicht Schritt gehalten und hofft nun auf einen freien Platz für die kommende Saison, da der Aufstiegswille in der zweiten Liga nur schwach ausgeprägt ist. Am Ende bleibt für Müller-Angstenberger aber der sportliche Erfolg der Maßstab, er hat die Verantwortung übernommen und den Weg frei gemacht.

Anfragen von anderen Clubs hat er früher ignoriert, jetzt öffnet sich dieser Horizont wieder. „Die Frage ist noch nicht beantwortet, ob ich ein Konzept habe, das auch woanders funktioniert. Vielleicht will ich das ja noch mal wissen.“