In ihrem aufwühlenden Roman „Ein wenig Leben“ führt Hanya Yanagiharas den Leser an die Grenzen des Erzählbaren. Er schildert die Passion eines Waisen, der seiner Vergangenheit zu entkommen versucht.

Stuttgart - Über keinen anderen Roman dieses Frühjahrs wurde hierzulande im Vorhinein so viel wie über „Ein wenig Leben“ geschrieben; kein anderes Buch, um dessen – sehr teure – Lizenz sich etliche deutsche Verlage heftig bemüht hatten, wurde mit derart vielen Vorschusslorbeeren bedacht. Mit ihrem zweiten Roman ist der 1974 geborenen, in Hawaii aufgewachsenen Hanya Yanagihara fraglos ein Wurf gelungen, der Kritiker in den USA und Großbritannien zu ekstatischen Lobeshymnen anspornte und der von Umfang und Anspruch allenfalls mit Donna Tartts 2014 auf Deutsch erschienenem „Der Distelfink“ vergleichbar ist.

 

Vier Freunde sind es, die im Mittelpunkt des vorwiegend in Manhattan angesiedelten Romankosmos stehen. Vier, deren Lebenswege über mehrere Jahrzehnte hinweg eingekreist werden. Sie alle – der Schauspieler Willem, der Architekt Malcolm, der Künstler J(ean)-B(aptiste) und der Anwalt Jude – bringen es zu Ansehen und Vermögen, und sie bleiben einander, mal näher, mal entfernter als Freunde verbunden. Amerikanischer als „Ein wenig Leben“, so scheint es anfangs, könnte kein Gegenwartsroman konstruiert sein. Wechselnde Perspektiven, Familienzerwürfnisse zuhauf, das Geschehen allmählich erhellende Rückblenden, Leitmotive wie das unabdingbare alljährliche Thanksgiving-Essen – nichts, was nicht zum Standardrepertoire eines gut geplotteten amerikanischen Romans gehören würde. Und dennoch zeigt sich, je tiefer man – ohne sich dagegen wehren zu können – in die Lebensverwicklungen der Akteure hineingezogen wird, dass die Autorin bis an die Grenzen des Erzählbaren geht und die Belastbarkeit ihrer Leser auf die Probe stellt.

Zu tun hat das vor allem damit, dass eine der Figuren – der Jurist Jude St. Francis – nach und nach ins Zentrum gerückt wird und fast alle Handlungsstränge auf ihn zulaufen. Das Findelkind Jude arbeitet sich langsam nach oben. Er ist – so die offizielle und natürlich falsche Lesart – durch einen Autounfall, den er als Jugendlicher erlitt, behindert, leidet unter massiven Schmerzen und ist nicht bereit, selbst mit seinen engen Freunden über seine Vergangenheit zu sprechen. Seine Verschlossenheit bringt ihm den Namen „Post-Mann“ ein: „Er hat nie ein Date, wir kennen seinen ethnischen Hintergrund nicht, wir wissen eigentlich gar nichts über ihn. Post-sexuell, post-ethnisch, Post-Identität, Post-Vergangenheit.“

Angst vor der „Gefängnisstrafe“ Sex

Warum Jude so geworden, ist das große, pochende Geheimnis in „Ein wenig Leben“. Selbst der begriffsstutzigste Leser spürt nach wenigen Seiten, dass Abgründe hinter Jude liegen, und Hanya Yanagihara lässt sich alle Zeit der Welt, diese Traumata aufzudecken. Den Juristenberuf hat Jude nur ergriffen, um sich auf der sicheren Seite der Welt zu wissen – ein Trugschluss letztlich, denn sicher und aufgehoben fühlt er sich nirgendwo. Weder bei seinem besten Freund Willem, mit dem er eine Liebesbeziehung, die „glücklichen Jahre“, eingeht, noch bei seinen fast penetrant fürsorglichen Adoptiveltern Harold und Julia, noch in einer glamourösen Anwaltskanzlei, wo er sich zwischen Akten vergräbt. Jude ist ein Verlorener, der panische Angst vor der „Gefängnisstrafe“ Sex hat, sich ständig ritzt und so seinen Körper zu einem Narbenfeld verstümmelt. Alles, was er tut, soll ihn von seiner Vergangenheit wegführen, und dass diese Vergangenheit von schlimmstem sexuellem Missbrauch geprägt war, erhellt sich Schritt für Schritt.

Hanya Yanagihara lässt nichts aus, um Judes aktuelles und erinnertes Elend in allen Details auszubreiten. Das ist eine Herausforderung und mitunter eine Qual, denn der Roman endet so, wie es nicht nur empfindsame Leserinnen und Leser spätestens nach der Hälfte befürchten.

Das führt in der epischen Weitschweifigkeit notgedrungen zu Wiederholungen und zu einem gewissen Verdruss, doch Hanya Yanagihara will niemanden schonen. Die Redundanzen sind folglich kein Zufall. Der Kampf, den Jude führen muss, ist zäh. Aufkeimende Hoffnung erlischt rasch wieder, und alle Versuche der Freunde, dem Gefährdeten dauerhaft zu helfen, fruchten wenig.

In den Leiden des Lesers spiegeln sich die Leiden der Hauptfigur

Jude ist das Extrem, doch auch seine nach außen hin so erfolgreichen Freunde haben mit Ängsten zu ringen, agieren, wie Willem erkennt, mit „Masken und Scharaden“ und drohen ihren Einsamkeitsschüben zu erliegen.

„Ein wenig Leben“ ist ein Roman über verunsicherte Männer, der nahezu ohne jede im Gedächtnis haften bleibende Frauenfigur auskommt. Die Protagonisten – nicht nur Jude – tun sich schwer, ihre Gefühle zu artikulieren, was zu permanenten Missverständnissen und damit zu pausenlos wiederholten Entschuldigungsfloskeln führt. Kaum einer will dem anderen Böses tun, doch das Richtige zu tun gelingt den vier Männerfreunden viel zu selten.

Hanya Yanagihara hat einen großen, aber keinen makellosen Roman geschrieben. Wie sie unterschiedliche Milieus auslotet, die Rolle von Geld, Drogen und Macht beschreibt, psychologische Tiefenbohrungen durchführt und insbesondere Jude in all seinen Entblößungen zeigt, ist von brachialer Gewalt, der man sich schwerlich entziehen kann. Die Leiden des Lesers spiegeln so die Leiden Judes wider. Weniger überzeugend hingegen wirkt die Strukturierung des Romans, die Judes Weggefährten Stück für Stück zu vernachlässigbaren Nebenfiguren degradiert. Und dass die Autorin gelegentlich Judes Adoptivvater Harold zum Ich-Erzähler macht, ist eher ein Missgriff denn ein geglückter Schachzug. An der Bewunderung, die man diesem Werk entgegenbringt, entgegenbringen muss, ändert das nicht allzu viel. „Ein wenig Leben“ – welch Untertreibung.