Vom Konservativen zum „roten Grafen“: Die Edition der Tagebücher von Harry Graf Kessler ist jetzt komplett.

Marbach - Sein Vater war ein deutscher, von Kaiser Wilhelm I. in den Grafenstand erhobener Bankier, seine Mutter stammte aus dem anglo-irischen Landadel, er selbst wurde in Paris geboren: Harry Clément Ulrich Graf Kessler (1868-1937) war der Spross einer kosmopolitischen Elite. Das englische Internat Ascot, das Hamburger Elitegymnasium Johanneum, die Universitäten Bonn und Leipzig und der Militärdienst in Potsdam waren die Stationen seiner Jugend; später verkehrte er als Verleger und Kunstmäzen, Diplomat und Salonlöwe unter den oberen Zehntausend von Berlin, Weimar, London und Paris.

 

Die Tagebücher, die der Graf seit seinem zwölften Lebensjahr 57 Jahre lang geführt hat, befinden sich inzwischen im Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Es hat unter Federführung seines ehemaligen Direktors Ulrich Ott und von Roland S. Kamzelak zusammen mit dem Verlag Klett-Cotta 2004 eine auf neun Bände angelegte Edition dieser Aufzeichnungen begonnen, die jetzt rechtzeitig im Jahr von Kesslers 150. Geburtstag mit dem Erscheinen des bisher noch fehlenden ersten Bandes abgeschlossen ist. Ab April 2019 wird die ganze Edition für die weitere Forschung auch online auf der Internetseite des Deutschen Literaturarchivs zugänglich sein.

Als 2004 die ersten Tagebuchbände erschienen, lösten sie im deutschen Feuilleton große Begeisterung aus. Kessler wurde als glänzender Chronist seiner Epoche gefeiert, sein Werk gar mit dem von Marcel Proust verglichen. Doch dem Grafen fehlt, was Prousts Werk auszeichnet: die Verbindung von Gesellschaftspanorama und subjektiver Éducation sentimentale. Das zeigte sich schon in den bisher veröffentlichten Bänden und wird jetzt durch die überwiegend auf Englisch verfassten Jugendaufzeichnungen bestätigt. Sie beginnen im Sommer 1880 in Bad Ems, wo der Zwölfjährige mit der Familie Urlaub macht, bevor er im Herbst seine Schullaufbahn im englischen Ascot fortsetzt, und enden mit dem Abschluss des Studiums im Herbst 1891. Während seiner Schul- und Studienjahre notiert Kessler fast täglich, mit wem er sich getroffen, was er unternommen und was er gelesen hat. Von seinen Gefühlen jedoch gibt er kaum etwas preis.

Vom „roten Grafen“ der Weimarer Republik ist zunächst noch nichts zu ahnen

Stattdessen liefert Kessler einen Einblick in den Lebensstil der wilhelminischen Oberschicht. Die Ferien verbringt er bei der Familie in Paris, in mondänen Badeorten wie Bad Ems, Pyrmont oder Spa, auf Norderney, in Sankt Moritz oder am Vierwaldstätter See. Schon als Jugendlicher unternimmt er ausgedehnte Bildungsreisen, die ihn nach Italien und Spanien, nach Kopenhagen und Göteborg, Prag, Wien und Budapest, aber auch zu den Wagner-Festspielen in Bayreuth und den Passionsspielen in Oberammergau führen. In Ascot gibt es die internatsüblichen Prügeleien, während der Studentenjahre in Bonn und Leipzig die erwartbaren abendlichen Besäufnisse bei den Burschenschaftlern. Dabei verkehrt Kessler fast nur mit Angehörigen der eigenen Klasse, darunter in Leipzig sogar mit zwei Prinzen aus dem sächsischen Königshaus. Vom „roten Grafen“, als der Kessler später in der Weimarer Republik galt, ist noch nichts zu spüren. Der Bismarck-Verehrer bekennt vielmehr offen: „I am a conservative at heart“.

Einen Großteil der Aufzeichnungen nehmen Kesslers tägliche Lektüre und seine Kunsterlebnisse ein. Er liest sich kreuz und quer durch die Weltliteratur, folgt auf seinen Reisen den Empfehlungen, die der Baedeker für die Museen, Kirchen und sonstigen Sehenswürdigkeiten gibt, und geht fast jeden Abend ins Theater, in die Oper oder auf einen Ball. Dieser exzessive Kunstkonsum wirkt so wahllos wie die mit Stilkopien aus allen Jahrhunderten vollgestopften Wohnzimmer der wilhelminischen Ära. Was aber bewegt den jungen Mann wirklich jenseits nichtssagender Floskeln wie „very nice“ oder „very interesting“? Der Leser bleibt ratlos. Die Frauen scheinen es jedenfalls nicht zu sein, und die Vorliebe fürs eigene Geschlecht kann man nur durch ganz vage Indizien erahnen.

Harry Graf Kessler: Das Tagebuch. Erster Band: 1880 – 1891. Herausgegeben von Roland S. Kamzelak. Klett Cotta, 880 Seiten, 65 Euro.

Buchpräsentation mit Roland S. Kamzelak, Ulrich Ott und Lothar Müller am 16. Dezember um 11 Uhr im Deutschen Literaturarchiv Marbach.