London - Was ist der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit? Zum Beispiel dies: Wenn Zeitungen melden, Asterix werde 61, Micky Maus 92, Tarzan 108 oder Winnetou gar 127 Jahre alt, dann ist damit natürlich nie die Figur selbst gemeint, sondern der Erscheinungstag des ersten Comics, des ersten Films, des ersten Buches, in denen diese Figuren die Hauptrolle spielten. Solche Geburtstage sind im Grunde reine Konstruktionen im medialen Jubiläumskarussell. Die Figuren sind zeitlos.
Das ist bei Harry Potter ganz anders. Der feiert tatsächlich an genau diesem Freitag, den 31. Juli 2020, in London seinen vierzigsten Geburtstag. Das ist so, das kann gar nicht anders als wahr sein – wenn man sich denn einlässt auf diese große wunderbare Geschichte in sieben Bänden, die die englische Autorin Joanne K. Rowling von 1997 an veröffentlicht hat. Mehr als 500 Millionen Mal haben sich die Bücher seitdem verkauft, die von 2001 an auch als Kinoverfilmungen die Leinwände und Bildschirme dieser Welt eroberten – von den Herzen der riesigen Fangemeinde ganz zu schweigen.
Doch woher wissen die Fans eigentlich so genau vom Geburtstag ihres Helden?
Aber wie sieht der nunmehr 40-jährige Zauberer heute wohl aus? Die meisten, die an Harry Potter denken, werden immer noch einen verstrubbelten schwarzhaarigen Jungen mit runder Brille und einer Narbe auf der Stirn vor Augen haben – oder eben gleich den Schauspieler Daniel Radcliffe, der von seinem 12. bis zu seinem 22. Lebensjahr diese Rolle verkörpert hat. Radcliffe ist übrigens Jahrgang 1989, also erst 31 Jahre alt, spielt weiterhin Filmrollen und hat ziemlich viel Haar auf dem Kopf und im Gesicht.
Nein, jetzt geht es um den ganz realen Harry Potter. Doch woher wissen die Fans eigentlich so genau vom Geburtstag ihres Helden? Band 1 der Geschichte, „Harry Potter und der Stein der Weisen“, beginnt ja keineswegs mit seiner Geburt, sondern setzt – ohne das Datum zu nennen, es ist nur von „ungemütlichem Wetter“ die Rede – 15 Monate später ein, am 31. Oktober 1981. Das ist ein sehr tragischer Tag: Potters Eltern sind gerade ermordet worden, auch dem Baby selbst sollte es an den Kragen gehen. Gute Freunde haben ihn in letzter Minute gerettet – und versuchen nun, die Familie seiner eher dumpf gestrickten Tante, die Dursleys, davon zu überzeugen, das kleine Kind bei sich aufzunehmen. Es lohnt sich, diesen Anfang einfach mal wieder zu lesen – bei aller Dramatik der Ereignisse ist Rowlings Tonfall leicht und locker, fast harmlos. Wenn der Leser da schon wüsste . . .
Die Wahrsagerin Trelawney hat im Frühjahr 1980 eine Vision
Doch richtig wissen kann dieser Potters Geburtsdatum erst in Band 5: „Harry Potter und der Orden des Phoenix“ – wenn er denn gut aufpasst. Denn natürlich verbindet die Rowling auch diesen Punkt mit einem Rätsel, und zuständig für Rätsel ist im Zaubererinternat Hogwarts bekanntlich Sybill Trelawney, die Leiterin des Wahrsageseminars im Zaubererinternat von Hogwarts. Trelawney hat nicht gerade den besten Ruf; es gilt unter Zauberern als geradezu lebensgefährlich, sich auf ihre wirren Orakel zu verlassen. Im Grunde liegt sie Zeit ihres Lebens nur mit zwei ihrer Sprüche richtig; der eine davon geht dann auch prompt als „Große Prophezeiung“ in die Geschichte ein.
Trelawney hat ihre Vision im Frühjahr 1980 im „Hog’s Head Inn“, deutschen Lesern wohlbekannt als „Eberkopf“, der Dorfkneipe von Hogsmeade; man will nicht ausschließen, dass zuvor ein großer Krug Butterbier geleert wurde. Der Hogwarts-Direktor Albus Dumbledore wird jedenfalls Zeuge, als Sybill die Worte raunt: „Der Eine mit der Macht, den Dunklen Lord zu besiegen, wird geboren werden, wenn der siebte Monat stirbt. Und der Dunkle Lord wird ihn als sich Ebenbürtigen kennzeichnen, aber er wird eine Macht besitzen, die der Dunkle Lord nicht kennt.“ Oder in einfachen Worten: Wenn der siebte Monat „stirbt“, also am 31. Juli, kommt jemand wichtiges auf die Welt: Harry Potter. Der „Dunkle Lord“ Voldemort, der zu diesem Zeitpunkt schon seit elf Jahren grausam um die Macht kämpft, wird diesen ihm ebenbürtigen Gegner „kennzeichnen“, und zwar mit einer Narbe auf der Stirn. Und die Macht, die der Böse nicht kennt und auch später stets unterschätzen wird, die Harry sein Leben lang schützen wird, das ist die Liebe seiner Eltern.
Lange Schlangen vor den Buchläden
Die vielen Stationen des dramatischen Kampfes zwischen Potter und dem „dunklen Lord“ Voldemort müssen nicht rekapituliert werden; sie sind weithin bekannt. Erinnert sei nur an die langen Schlangen, die sich regelmäßig schon nachts vor den Buchläden bildeten, wenn ein neuer Potter-Band auf dem Markt erschien. Das ging so bis zum großen Buchfinale „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“, 2007 veröffentlicht. Und, oh Wunder: Der Autorin Rowling war es tatsächlich gelungen, den großen Kampf zwischen Gut und Böse für die Fans zufriedenstellend zum Abschluss zu bringen. Keine Selbstverständlichkeit – man denke nur an das Gezerfe in den sozialen Netzwerken, als im Sommer 2019 die finale TV-Staffel von „Game of Thrones“ viele enttäuschte.
Was zumindest einen Teil der Fangemeinde allerdings wurmte, das war Rowlings fester Wille, mit dem siebten Band die Harry-Potter-Geschichte wirklich beenden zu wollen. Viele ihrer Leser wünschten sich Fortsetzungen. Und warum sollte es ausgerechnet hier anders zugehen als sonst in kommerziell erfolgreichen Fantasiewelten – prominentestes Beispiel: „Star Wars“? Vielleicht war das Böse ja gar nicht endgültig besiegt? Warum gab es nicht einfach neue Aufgaben für Harry Potter? Doch Rowling unterband auch juristisch alle Versuche, die Erzählung irgendwie weiterzuspinnen.
Was macht Harry eigentlich heute?
Darüber rätseln, wie es Harry Potter zu seinem 40. Geburtstag geht, muss dennoch niemand. Ein kurzer Überblick: Er arbeitet in der Abteilung für magische Strafverfolgung im Zaubereiministerium in London; seine Frau Ginny ist Sportjournalistin (Spezialgebiet: Quidditch) bei der Zeitung „Daily Prophet“. Das Paar hat drei Kinder: James, Albus und Lily Luna. Vor drei Jahren hatte deren Vater ein dickes seelisches Tief; vor allem die Beziehung zu seinem Sohn Albus Severus kriselte – eine Krise, die beinahe zu einer furchtbaren Katastrophe geführt hätte. Eine Katastrophe mit Folgen, die noch schlimmer gewesen wären als das aktuelle Gebaren jenes wirren gelbhaarigen Premierministers, den die britischen Muggel (das heißt: die Nichtzauberer) törichterweise ins Amt gewählt haben.
Doch woher stammt die Gewissheit, dieses Pottersche Erwachsenen-Dasein als wahre Geschichte verkaufen zu können? Ganz einfach: Joanne K. Rowling ist mit genügend zeitlichem Abstand doch noch ihren Prinzipien untreu geworden. „Harry Potter und das verwunschene Kind“ heißt das Theaterstück, das 19 Jahre nach dem Ende von Band 7 der Romanreihe spielt, 2016 in London uraufgeführt wurde. Die deutsche Erstaufführung in Hamburg sollte am 15. März stattfinden. Zwei Tage vorher ging das Theater am Großmarkt vor dem Coronavirus in die Knie; die Premiere ist nun am 4. Oktober geplant. Nach Angaben des Veranstalters sind bereits 250 000 Tickets für Vorstellungen verkauft.
Das Böse hat bis heute Kraft
Natürlich will man nicht zuviel verraten vom Leben des inzwischen nicht mehr ganz so jungen Meisterzauberers Potter (das Theaterstück spielt übrigens 2017, da ist er erst 37, aber den Rest an Jahren denken wir uns einfach dazu). Eins ist jedenfalls klar: Er sollte dringend mehr Sport treiben. Und er trägt noch immer die Narbe auf seiner Stirn. Die Wunde hat ihn gezeichnet, aber sie hat ihn auch gerettet. Sie vermag noch immer zu schmerzen, weil selbst in der bloßen Erinnerung das Böse noch Kraft hat.
In diesem Bild drückt sich eine der Stärken der Erzählerin Joanne K. Rowling aus, ihr tiefer Humanismus, ihre Nähe zum Leben: Nur wer sich seinen Wunden und Ängsten stellt, sie sich selbst bekennt, wird jene Stärke entwickeln, um das Richtige, das Gute zu tun. Das ist der Grund, warum Asterix, Micky Maus, Tarzan oder Winnetou eben nur dank Comics, Filmen oder Büchern weiter am Leben sind. Ausgerechnet ein Zauberschüler kommt uns dagegen wie ganz aus dem wirklichen Leben vor. Älter wird jeder. Aber keine Sorge: Harry Potter wird es auch.