Haruki Murakamis „Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki“ schildern die Therapie eines Lebenstraumas. In Japan war das Buch ein Rekorderfolg. Aber der StZ-Literaturkritiker Stefan Kister ist von dem Roman nicht restlos überzeugt.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Der neue Roman des japanischen Bestsellerelegikers Haruki Murakami appelliert an die Sinne: an das Ohr, weil seine Geschichte wie ein Hintergrundsound die Hörerlebnisse des Autors mit sich führt; an das Auge, weil die Opposition von Monochronie und Farbigkeit den zentralen Konflikt aufreißt, an dem sein Held wie an einer schwärenden Wunde leidet. Es mag daher legitim sein, zunächst mit einer sinnlichen Wahrnehmung zu beginnen. Auf dem Bucheinband ist ein Schmetterling zu sehen, in zarten Grautönen, erst der transparente Umschlag verleiht ihm vielfarbig schillernde Flügel. Grau oder bunt? Das ist nicht nur die Leitfrage für die „Pilgerreise des farblosen Herrn Tazaki“, wie der Titel lautet, es ist in modifizierter Form auch die, die der Leser für sich beantworten muss, wenn er zwischen vielversprechenden Handlungsanläufen und gähnenden Leerräumen die Orientierung zu verlieren droht.

 

Die japanischen Leser beantworteten diese Frage auf ihre Weise, indem sie dem Buch einen Rekordverkauf bescherten. Vielleicht liegt das auch daran, weil eine Kollektivgesellschaft wie die japanische besonders empfänglich für Geschichten ist, die von der existenziellen Verlassenheit des Einzelnen im wogenden Meer der Menge erzählen. Niemand erzählt diese Geschichten so beharrlich und immer wieder neu wie Haruki Murakami. Maliziös könnte man geradezu von einer Einsamkeits-Konfektion sprechen, in die er seine verwaisten Figuren hüllt, für die er immer neue kulturelle Melancholie-Accessoires ersinnt: Drinks, alte Schallplatten, klassische Preziosen. Sein aktueller Held trägt Chinos, ein schwarzes Polohemd, Turnschuhe und hört Liszt: „Le mal du pays“ aus den „Années de pèlerinage“, gespielt von dem Pianisten Lazar Berman.

An Symbolketten schleppt der Held sein Trauma durchs Leben

Was Kollektivgesellschaft bedeutet, erfährt man am besten an Bahnhöfen. Zum Beispiel in der Tokyoter Station Shinjuku, die laut Guinness-Buch der Rekorde die meisten Fahrgäste der Welt in alle Richtungen verschickt. „Der Strom der Menschen, die hier umsteigen, wallt hierhin und dorthin und bildet gefährliche Strudel.“ Wehe, jemand versuchte in der Mitte kehrtzumachen. Hierher zieht sich Tsukuru Tazaki zurück, wenn er nachdenken möchte. Wie andere Menschen ins Konzert oder ins Kino gehen, besucht er Bahnhöfe. Wer so etwas tut, hat sich aus dem pulsierenden Organismus der Gemeinschaft ausgeklinkt, er gehört nicht dazu und hat kein Ziel.

Tsukuru ist der farblose Mann in der Menge. Ein Überzähliger, der sechste Finger einer Hand. Polydaktylie heißt das Phänomen, auf das ihn ein Bahnhofsvorsteher zum ersten Mal aufmerksam macht, der unter den Fundsachen, die Menschen in Zügen zurücklassen, auch zwei amputierte kleine Finger aufbewahrt. Wie Analysen ergeben, stammen sie von Jemandem, der dieselben zu viel hatte. Eine angeborene Deformation, die eine der Symbolketten dieses Romans bildet, an denen Tsukuru sein Trauma durch das Leben schleppt.

Die Zeit hat die fabelhaften Möglichkeiten zerstreut

In seiner Jugend war er Teil eines Freundschaftsbundes, der fünfte in einer Vierergruppe, deren Zusammengehörigkeit noch durch die Farbbedeutung ihrer japanischen Namen unterstrichen wird: Rotkiefer, blaues Meer, weiße Wurzel, schwarzes Feld – nur Tsukuru trägt keine Farbe im Namen. So fühlt er sich in der Harmonie seiner komplementär begabten Freunde als Fremdkörper: ohne Eigenschaften, mittelmäßig, farblos. Als er von einem Tag auf den anderen von den bunten Vier ohne ersichtlichen Grund verstoßen wurde, fällt er in eine tiefe Krise, wenig hätte gefehlt und es wäre die Endstation gewesen.

Jahre später verliebt sich der Beziehungslose in eine Frau. Sie schickt den seelisch demolierten Bahnhofsfreund auf eine therapeutische Reise durch sein eigenes Leben, zurück zu jenem Punkt, an dem sich einmal die Wege trennten. Tsukuru besucht die früheren Freunde und entdeckt, dass die Bewunderten ohne ihn auseinanderfallen mussten, dass er der geheime Mittelpunkt des Kreises war und ihr Blick auf ihn von Achtung geprägt. Ihr heutiges Leben genügt in keiner Weise dem Glücksversprechen, von dem sich der Farblose für immer ausgeschlossen wähnte. Der Fluss der Zeit hat all ihre fabelhaften Möglichkeiten fortgetragen, heißt es an einer Stelle.

Dialoge wie in Manga-Comics

Schwerblütige Weisen begleiten Tsukuru Tazakis psychoanalytischen Kur-Trip, edler Jazz eines ehemals sechsfingrigen Pianisten und Franz Liszt. Das Leben erscheint wie eine schwierige Partitur. Beim Hören jenes „Mal du Pays“ ereilt ihn die musikalische Erleuchtung, dass es nicht nur die Harmonie ist, die die Menschen verbindet: „Viel tiefer war die Verbindung von Wunde zu Wunde. Von Schmerz zu Schmerz. Von Schwäche zu Schwäche.“

Wenn aber nicht nur das Leben, sondern auch Texte Partituren sind, so wäre an der Satzkunst Murakamis einiges zu beanstanden. Dem komplexen Harmonie-Begriff, für den er plädiert, genügt das eigene Kompositionsverfahren kaum, weder die Küchenpsychologie, die die Reparatur der Seele mit der eines Bahnhofs gleichsetzt, noch der aufdringliche Fingerzeig der Leitmotive, und schon gar nicht die hölzernen Dialoge, die an in Prosa verwandelte Manga-Comics erinnern: „,Und du wirst fleißig Tag und Nacht einen ganz besonderen Bahnhof für mich bauen?‘ ,Genau‘, sagte Tsukuru. ,Denn ich liebe dich von ganzem Herzen und will mit dir zusammen sein.‘ ,Ich liebe dich auch sehr. Jedes Mal, wenn wir uns sehen, gefällst du mir besser.‘“ So klingt versierte Unterhaltungskunst.

Wie ist also die eingangs gestellte Frage zu beantworten: grau oder bunt? Bedeutungsungewissheit mag einem Adoleszenten nachzusehen sein. Einem Roman gereicht sie eher zum Nachteil.