Immer weniger junge Mediziner wollen eine eigene Praxis betreiben. Dabei habe die Tätigkeit als Hausärztin viele Vorteile, erklären Anna-Laura Kappes (38) und Sandra Schön (37), die gemeinsam in Oberaichen praktizieren.

Von langer Hand geplant war es nicht. „Ich hatte nie das Ziel, Hausärztin zu werden“, gibt Anna-Laura Kappes (38) zu. Seit fast zwei Jahren betreibt sie nun dennoch ihre eigene Praxis in Oberaichen, zusammen mit Sandra Schön (37). Den Berufsalltag in einer Klinik vermissen die beiden Fachärztinnen für Innere Medizin nicht. Stattdessen schätzen sie die Flexibilität, die Selbstständigkeit und die medizinische Vielfalt als Hausärztinnen.

 

Die Übernahme der Praxis in Oberaichen sei eher zufällig erfolgt, berichtet Anna-Laura Kappes. Der Vorgänger habe per Annonce einen Nachfolger gesucht, erinnert sie sich. Eigentlich habe sie auch zunächst eher eine Anstellung im Blick gehabt. Doch ihr Vorgänger habe sie im persönlichen Gespräch von der selbstständigen Tätigkeit, nahe dem eigenen Wohnort, überzeugt. Als Kappes ihrer Kollegin Schön die gemeinsame Arbeit in der Praxis vorgeschlagen habe, habe sie gleich zugesagt. „Ich habe nicht lange überlegt“, erinnert sich Schön.

Die Work-Life-Balance stimmt

Ein großer Pluspunkt der Hausarztpraxis ist sowohl für Kappes als auch für Schön, die beide kleine Kinder haben, die Vereinbarkeit mit dem Familienleben. „Ich kann mir meine Sprechzeiten selbst zusammenstellen“, erklärt Kappes. Die Work-Life-Balance stimme, bestätigt Schön. Darüber hinaus könne man fachlich selbstständige Entscheidungen treffen. Und die Bandbreite an medizinischen Fällen sei hoch. „Man bekommt alle Themen. Das macht es so spannend“, sagt die Ärztin. Außerdem schätzen beide den Kontakt mit den unterschiedlichen Patienten. Darüber hinaus gebe es in Leinfelden-Echterdingen eine gute Zusammenarbeit innerhalb der Ärzteschaft. So würden Notdienste und Vertretungen auf mehrere Schultern verteilt. „Wir haben ein gutes Netzwerk. Man hilft sich gegenseitig“, erklärt Kappes.

Die Investitionskosten schrecken ab

Doch warum entscheiden sich nicht mehr Ärzte für den Sprung in die Selbstständigkeit? Einerseits locke die Arbeit als Facharzt mit einem höheren Gehalt, meint Schön. Abschreckend könnten ferner die Investitionskosten bei der Übernahme einer Praxis sein. Dass die Stadt Leinfelden-Echterdingen nun einen Investitionskostenzuschuss für neue Ärzte bezahlen möchte, sei ein wichtiger Punkt, um Ärzten die Übernahme einer Praxis zu erleichtern.

„Das ist ein starker Anreiz“, meint Kappes. Auch das Angebot einer Wohnung in Verbindung mit einer Praxis könne jungen Ärzten die Übernahme einer Praxis, insbesondere in einem Ballungsraum, erleichtern. Ebenfalls abschreckend könnte dagegen sein, dass viele junge Ärzte zunächst einmal nicht wüssten, was die Selbstständigkeit bedeute. Themen wie Buchhaltung oder Steuern würden während der medizinischen Ausbildung nicht vermittelt. „Das muss man sich aneignen“, sagt Kappes. Es sei aber alles machbar.

Dass sich die Situation bei der Suche nach Nachfolgern für Praxen verschärft, sei ein großes Thema innerhalb der Ärzteschaft in der Stadt. „Da muss sich etwas ändern“, so Kappes. „Alle sind alarmiert“, ergänzt Schön. Und nicht allein die älteren Ärzte fragten sich, wie es mit den Praxen einmal weitergehen solle. Auch mache Patienten fragten sich, wer sich in den nächsten Jahren um sie kümmern werde. „Sie haben Angst, dass sie alleine dastehen“, berichtet Kappes.

Wertschätzung des Berufs steigt wieder

Um mehr Mediziner zur Übernahme einer Praxis zu bewegen, braucht es aus Sicht der Oberaichener Ärztinnen aber nicht allein finanzielle Anreize. Auch die Wertschätzung mancher Kollegen gegenüber den Hausärzten sei in der Vergangenheit nicht immer besonders groß gewesen. Doch das ändere sich derzeit, berichten Kappes und Schön. „Die Allgemeinmedizin hat zu Unrecht einen schlechten Ruf“, findet Schön. Innerhalb der Ärzteschaft erfahre die Arbeit der Hausärzte in der jüngeren Vergangenheit mehr und mehr Anerkennung. Auch im Medizinstudium sei das Image des Allgemeinmediziners gestiegen.

Bereut haben die beiden Ärztinnen den beruflichen Schritt von der Klinik in die Hausarztpraxis nicht. „Die Arbeit als Hausärztin ist eine schöne Tätigkeit“, betont Kappes. Man trage zur allgemeinen medizinischen Versorgung vor Ort bei, wofür man auch die Wertschätzung vieler Patienten bekomme.

Ein paar Zahlen

Alter
Das Durchschnittsalter der Ärzte in Deutschland steigt laut einer Studie der Robert-Bosch-Stiftung immer weiter an. Auch jene Ärzte, die noch über das 65. Lebensjahr hinaus praktizieren, werden immer mehr. Waren es im Jahr 2009 noch sechs Prozent, so ist ihr Anteil auf 15,7 Prozent (2020) gestiegen. Jeder fünfte Hausarzt ist zwischen 60 und 65 Jahre alt.

Versorgung
Die Versorgung mit Hausärzten lag laut Kassenärztlicher Vereinigung im Jahr 2022 im Landkreis Esslingen bei mehr als 90 Prozent. Die Anzahl der Allgemeinmediziner ist landkreisweit laut einer Statistik der Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KVBW) seit 2013 von 259 auf 278 im vergangenen Jahr angestiegen. Allerdings arbeiten nicht alle Ärzte in Vollzeit. Angesichts eines drohenden Ärztemangels versuchen viele Städte und Gemeinden mit finanziellen Anreizen junge Ärzte für ihre Orte zu gewinnen.