In der Tübinger Thipvalkaserne teilen sich 110 Kommunarden noch immer Küche und Bad in einer Wohngemeinschaft - eine bedrohte Lebensform.  

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

Tübingen - Die meisten Besucher der Schelling wundern sich, wie man sich zu Zehnt zwei Duschen teilen kann und es über Jahre in einem 15-Quadratmeter-Zimmer aushält. Aber das sind Nebenschauplätze. Das Herz einer Wohngemeinschaft schlägt in der Küche, am großen Tisch. Wer in einer Groß-WG durchhält, ist nie einsam, der lernt jeden Tag dazu, der zuckt wegen etwas angebranntem Eintopf auf dem Herd, wegen fremder Haare in der Dusche oder einem weggemampften Sonntagskuchen nicht zusammen, der blickt auch souverän über Staubflusen hinweg.

 

"Eine Groß-WG ist ein hochorganisiertes soziales Zusammenspiel", sagt Ingo Riethmüller. Der studierte Ethnologe und selbstständige Kulturmanager weiß Bescheid: Seit einem Vierteljahrhundert lebt er in der Schelling. In dem ehemaligen Offiziersgebäude der Tübinger Thiepval-Kaserne sowie den beiden Häuser, die das Studentenwerk in Fertigbauweise im Hof errichtete, leben 110 Menschen in 13 großen WGs mit bis zu zwölf Leuten. "Die Vereinzelung heute ist nicht menschlich. Sie ist unserem Wirtschaftssystem geschuldet. Früher bedeutete Verbannung die Höchststrafe!"

Häuserbesetzung aus Wohnungsnot

Während Riethmüller seine Worte einsickern lässt, schweift sein Blick in die Ferne, zum Ende des Gartens. "Ich vergleiche das immer mit dem Langhaus der Irokesen", sagt Riethmüller, der mit seinem braunen Zopf selbst ein bisschen indianisch aussieht. Tatsächlich sind die WG-Zimmer in der Kaserne in der Schellingstraße (daher der Name Schelling) durch schier endlose Flure verbunden. Diese sind mit Möbeln und Pflanzen vollgestellt, im hinteren Teil auch mit Wäscheständern.

Riethmüller war im Juni 1980 bei der Besetzung der Kaserne dabei. Damals herrschte in der Unistadt Tübingen krasser Wohnungsmangel. Im Wintersemester 1979/1980 mussten 300 junge Menschen ihre Studienplätze aufgeben, weil sie die Mieten nicht bezahlen konnten. Das Schlagwort vom "sozialen Numerus clausus" machte die Runde. Vermieter konnten abstruseste Forderungen stellen - vom Besuchsverbot für die Mieter bis hin zur Abwesenheitspflicht am Wochenende. Kein Wunder, dass viele mitliefen, als auf einem Konzert die Durchsage erschallte: "Die Thiepvalkaserne ist soeben besetzt worden", man soll dort hinkommen, um die anarchistische Annexion zu unterstützen.

Wachen, falls die Polizei anrückt

Das Gebäude hatte leer gestanden, nachdem die französischen Streitkräfte von 1977 an peu à peu aus der Stadt abgezogen waren. Zwölf junge Leute enterten die Kaserne, organisierten per Telefonkette rasch Verstärkung und nahmen den Bau in Beschlag. "Wir haben eigentlich nicht damit gerechnet, dass es gutgeht und stündlich einen Räumtrupp der Polizei erwartet", erzählt Riethmüller. Man postierte Wachen vor der Mauer, die den Bau umgibt, die Alarm schlagen sollten, wenn Polizei anrückt. "Eine Nacht war ich an der Reihe. Ich habe bibbernd auf einem alten Sofa gehockt und bloß gedacht: Hoffentlich kommen sie nicht ausgerechnet heute."

Das Haus wurde zur Überraschung aller nie geräumt. Es folgten zähe Verhandlungen an deren Ende das Studentenwerk das Offiziersgebäude der Kaserne vom Bund pachtete und zum stinknormalen Wohnheim umfunktionierte. Das war nicht im Sinne der Besetzer. Diese behalfen sich abermals - entsorgten die Stuwe-Möbel, tauschten Schlösser aus, suchten sich ihre Mitbewohner selbst und lebten mehr oder weniger heimlich selbst verwaltet.

Idyll mit Ghettocharme

Ingo Riethmüller zog bei Bahamas ein, der WG unten links. Andere Wohngemeinschaften wählten Namen wie Treibhaus, Ahnungslos oder Lummerland. Letztere hat übrigens nichts mit Jim Knopf zu tun, sondern mit dem Christdemokraten Heinrich Lummer, der als Berliner Innensenator wegen seiner harten Linie gegen die Hausbesetzer bekannt wurde. Bestimmt hätte der politische Rechtsaußen gegen ein Ehrenmal in einer ehemaligen Infanteriekaserne nichts einzuwenden, vermutlich hätte er es sich nur etwas aufgeräumter gewünscht.

Riethmüller nippt an seiner Schale Milchkaffee und blinzelt in die Sonne, die einige Hausbewohner in den Garten lockt. Sie hocken auf Bierbänken und ramponierten Gartenmöbeln, lesen, rauchen, quatschen. Ein umgekippter Einkaufswagen liegt im Gras, und die Feuerstelle säumen die traurigen Reste einer Grillparty. Idyll mit Ghettocharme. Die unterschiedlichen Lebensrhythmen und -ansichten führen dazu, dass es immer nur gerade so viel Regeln gibt wie nötig. Riethmüller wirkt fast ein bisschen stolz, wenn er erzählt, wie unterschiedlich seine WG-Genossen ticken: eine hat Geschichte studiert und arbeitet seit vielen Jahren in der Gastronomie, eine studiert Jura und baut nebenbei eine Eventfirma auf, einer studiert Forstwirtschaft, einer hat Zimmermann gelernt und ist nach verschlungenen Umwegen zum Energieberater geworden, eine macht eine freiwilliges soziales Jahr, eine ist arbeitslos und einer studiert Philosophie und tritt als Poetry-Slammer auf. Außer der Wohnadresse gibt es rein äußerlich nicht viele Gemeinsamkeiten. Die Lummerländer würden es sich da einfacher machen, frotzelt Riethmüller, da wohnten fast nur noch Doktoranden.

Unermüdliche Kaufverhandlungen retteten das selbst gezimmerte Paradies

Dabei war gerade die Lummerland-WG einst für ihre illustren Zwischenmieter bekannt: Gesellen auf der Walz, eine Schauspielertruppe - oder ein Stockfisch. Die getrocknete Delikatesse hatten zwei Mitbewohner zwecks Zubereitung aus dem Urlaub mitgebracht. Vor dem Verzehr müsse man das tote Meerestier in reichlich Wasser aufquellen lassen, erklärten sie, nach zwei bis drei Tagen sei er dann bereit zur Weiterverarbeitung in der Küche. Tatsächlich nahm das Mitbringsel aus Italien die Badewanne für zwölf Leute wochenlang in Beschlag. Die beiden Köche trauten sich nicht recht an das Fischgericht. Die gut gewässerte Spezialität landete am Ende nicht im Topf, sondern in der Tonne.

Im Winter 1999 schien das Ende des selbst gezimmerten Paradieses nah: allen Bewohnern wurde gekündigt. Mit unermüdlichen Protesten und beinahe fünf Jahre währenden Kaufverhandlungen schafften sie es schließlich, das Gebäude mit Hilfe des Freiburger Mietshäuser-Syndikats, einer nichtkommerziellen Beteiligungsgesellschaft, zu kaufen. 1,1 Millionen Euro betrug der Preis, fast noch mal so viel musste in die Renovierung gesteckt werden.

Gegen Kost und Logis eine Gratis-Dachrenovierung

Aus den Schellings wurden nicht bloß Hausbesitzer, sondern auch Finanzexperten, die es schafften, mittels Bürgschaften, Direkt- und Bankkrediten zwei Millionen Euro aufzubringen, die über die Mieten zurückbezahlt werden. Zugleich durften die Mieten nicht zu sehr steigen - man hätte damit die eigenen Leute aus dem Projekt gekegelt. "Wir wollten uns ja nicht selber gentrifizieren", sagt Riethmüller. Er erzählt diese unglaubliche Erfolgsgeschichte sehr gerne.

Die guten Kontakte zu Handwerkerkreisen zahlten sich jetzt aus. Die Schelling war von jeher eine Anlaufstelle für Gesellen auf der Walz gewesen. Im Sommer rückte ein Trupp Zimmerleute zur Dachrenovierung an. Als Lohn forderten sie freie Kost und Logis sowie einen Pool im Garten. Ein bisschen Komfort muss schon sein, fanden die Gesellen. Aus einem riesigen Stück Rohr fertigten sie einen Zuber, den sie aufbockten und mit Badewasser füllten. Der Zuber der Zimmermänner steht noch heute im Garten. Gern wird er für Partys erhitzt, da kann man sich dann selbst bei Minusgraden mit einem Bier ins warme Wasser setzen. Das Dach wurde übrigens in jenem Sommer auch noch fertig.

"Soziale Kompetenz ist eine Frage des Trainings, wie bei einem Muskel"

Riethmüllers WG-Genossin ruft aus dem Fenster in den Garten. Es gibt bald Abendessen. Eigentlich brauche man das Gelände gar nicht verlassen, alles sei da, sagt Riethmüller und leert den kalten Kaffee. Es gebe einen großen Garten, im Keller sogar eine eigene Hausbar, einen Umsonstladen für gebrauchte Klamotten, ein Büro und die Food-Koop, eine Lebensmitteleinkaufsgemeinschaft. Vor allem aber habe man den ständigen und anregenden Austausch mit unterschiedlichen Leuten. Ein bisschen Sorge bereite ihm allerdings, dass er "irgendwann in die Situation geraten könnte, als WG-Opa dazustehen". Es sei schwierig, Mitbewohner jenseits der 50 zu rekrutieren. Dabei seien Ältere nicht weniger WG-tauglich und flexibel als Jüngere. "Soziale Kompetenz ist eine Frage des Trainings, wie bei einem Muskel. Wer übt, bleibt beweglich."

Mit seiner Tochter Alina hat Riethmüller selbst für die Verjüngung dieser XXL-Kommune gesorgt. Es gebe kein besseres Umfeld für ein Kind als eine WG, sagt er. Diese Erkenntnis begann mit den Worten: "Arschloch! Arschloch!" So haben ihn vor etwa 20 Jahren zwei Schelling-Kinder bedacht. Die Steppke wollten einfach sehen, wie der Erwachsene reagiert. "Ich habe mich nicht mehr eingekriegt vor Lachen. Nach diesem Erfolg haben sie das dann gleich an den anderen WG-Mitbewohnern ausprobiert." Die Testbeschimpfung zeigte höchst unterschiedliche Resultate. "Die Kinder haben zehn verschiedene Möglichkeiten kennengelernt, wie Menschen auf ein und dieselbe Situation reagieren können. Da war mir klar, wenn ich jemals Kinder habe, dann sollen sie in einer solchen Umgebung groß werden." Vor vier Jahren kam Alina zur Welt. Das Mädchen erlebt eine Kindheit, wie sie sich ihr Vater erträumt hat.