Wer sich fragt, in welchem Land wir leben, sollte bisweilen Grenzen überwinden – geografische ebenso wie jene im eigenen Kopf, meint Lokalchef Holger Gayer. In diesem Sinne: schönen Gruß aus Moldawien.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Es muss eine bemerkenswerte Begegnung gewesen sein, die Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Sommer bei seinem Antrittsbesuch in Stuttgart hatte. Er habe einen Mitarbeiter aus der Autobranche getroffen, übrigens ein Sohn von türkischen Gastarbeitern, der sagte: „Jahrelang war ich stolz, dass ich in Deutschlands Vorzeigeindustrie arbeite. Jetzt fragen mich alle, ob ich mit betrogen habe.“ Die Episode stammt aus Steinmeiers Rede zum Tag der deutschen Einheit, und sie steht in einer Reihe mit weiteren Begegnungen, von denen das Staatsoberhaupt berichtet hat – einer Frau aus Bitterfeld, die eine Wahlkampfrede anhören wollte und dabei in hasserfüllte Gesichter von Nachbarn geschaut habe; einem Ladenbesitzer aus Hamburg, der mitansehen musste, wie nach den G-20-Protesten „aus ganz normalen Passanten Gaffer und Plünderer geworden sind“.

 

In welchem Land leben wir eigentlich?

Briefwechsel mit einer 19-Jährigen in Moldawien

Riccarda Stiritz hat den Tag der deutschen Einheit in Moldawien verbracht. Seit knapp einem Monat ist die 19-jährige Frau in Balti, der zweitgrößten Stadt des Landes. Dort unterrichtet sie im Auftrag des Goethe-Instituts Deutsch und vermittelt den Schülern dabei mehr als nur Sprache – es geht um Austausch, Begegnung und ganz schön viel Idealismus.

Am 3. Oktober fuhr sie auf Einladung der deutschen Botschaft in die Hauptstadt Chisinau. „Da in dem edlen Einladungsbrief ein schickes Restaurant vermerkt war, schloss ich auf ein gutes Abendessen im Kreis der sich aktuell in Moldawien befindenden deutschsprachigen Leute“, erzählt sie in einer Mail an einen Freund in Stuttgart. Mit einem „von glitzernden Kronleuchtern verzierten Saal und dem moldawischen Präsidenten als Ehrengast“ habe sie eher weniger gerechnet.

Mehr Einheitsgefühl in den Köpfen der Menschen

Steinmeiers Rede zum Tag der deutschen Einheit las sie am Morgen danach. „Da hat mich eine Aussage besonders angesprochen“, schreibt sie: „Es sind andere Mauern entstanden, weniger sichtbare, ohne Stacheldraht und Todesstreifen – aber Mauern, die unserem gemeinsamen „Wir“ im Weg stehen.“ Grenzen zu überwinden sei alles andere als einfach, doch sich dafür anzustrengen lohne sich, meint Riccarda Stiritz: „Mein persönlicher Schritt aus meinem Zuhause heraus in ein fremdes Land hat eine riesige Mauer fallen lassen, gebaut aus Ängsten, Vorurteilen und Zweifeln. Welch schöne Vorstellung wäre es, wenn sich jeder Mensch in Deutschland oder auch hier in Moldawien diesen Satz zu Herzen nehmen würde. Wenn jeder den Versuch starten würde, eine Mauer in seinem Umfeld zu überwinden und dafür neue Erkenntnisse und mehr Miteinander zu erlangen. Ein bisschen wünsche ich mir, ein Teil von Steinmeiers Rede wäre auch bei diesem Empfang eingespielt worden. Denn auch in diesem Raum und unter den dort anwesenden Personen standen metaphorische Mauern. Grenzen zwischen Personengruppen, politischen Ansichten und Machtverhältnissen.“

Sie nehme von diesem Abend manches mit: „Guten Wein, leckeres Essen und interessante Gespräche – aber vor allem den Wunsch nach mehr Einheitsgefühl in den Köpfen der Menschen. Denn das sind wir schließlich alle, oder? Menschen.“