Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Die erste Meisterschaft des VfB im Jahre 1950 „hat dieser Stadt Impulse gegeben, die durchaus vergleichbar sind mit denen, die das ganze Land packten, als Fritz Walter und seine Männer vier Jahre später als Weltmeister aus Bern zurückkehrten“, notierte der StZ-Mann in einem Band, der die fünfziger Jahre in Stuttgart beschreibt. Zwar könne eine Stadt auch ohne erstklassigen Fußballverein leben, „aber es würde dieser emsigen, tüftelnden und grantelnden Region am Mittleren Neckar doch viel fehlen“, wenn ihre sportlichen Träume nicht erfüllt worden wären. „Der Mann auf der Straße hat ein feines Gefühl dafür“, meinte Blickensdörfer – und auch dafür, was unbeugsamer Wille vollbringen kann: „Weit über den sportlichen Bereich hinaus drang das Beispiel des einarmigen Kapitäns Robert Schlienz, der die Mannschaft nach dem Berliner Endspielsieg nicht nur zu einer zweiten Deutschen Meisterschaft, sondern auch noch zu zwei DFB-Pokalsiegen führte.“

 

Übrigens ist jener vielen Jungen unbekannte Schlienz nicht nur Blickensdörfers Held in Ewigkeit gewesen – weswegen die Wolke, auf der beide sitzen, ohne Zweifel rot ist. Schlienz stammte aus Zuffenhausen, was die Freude der Stuttgarter an ihrem VfB zweifellos noch stärkte, weil der Verein in seinen besten Jahren eben nicht nur ein Cannstatter Phänomen war, sondern ein gesamtstädtisches.

Magnet für all die Doppelkennzeichen

Sechzig Jahre später ist das anders. Der VfB ist aus Stuttgart hinausgewachsen, hat sich sogar seiner Heimat entfremdet, seit er zum Magnet für all die Doppelkennzeichen geworden ist, die seit Jahren die Einfallstraßen in die Stadt verstopfen. Dutzendfach mehr LBs, WNs, ESs, BBs, HNs, RTs, GPs, TÜs pilgern zu den Heimspielen und später in den Perkins Park oder auf die Theo-Heuss, als Einheimische das tun. Ähnlich verhält es sich mit der Wilhelma und der Königstraße. Der Staatsgalerie und dem Kunstmuseum. Der Oper, dem Ballett und bisweilen sogar dem Kleinen Haus. Allesamt zentrale Orte sind das, aber bei Weitem nicht nur für die Stadt, sondern längst auch für das Land, deren Kapitale Stuttgart ist. Doch wer die Invasion der Provinz geißelt, stellt die Position der Landeshauptstadt infrage. Stuttgart gehört nicht nur den Stuttgartern. Die Stadt profitiert von den Berufspendlern und auswärtigen Vergnügungswilligen – wirtschaftlich und kulturell. Aber die Einheimischen sind auch klug genug, den einfallenden Truppen nicht alles zu verraten.

Heike und Christoph Ruck machen zum Beispiel einen der besten Trollinger Württembergs. Als handele es sich dabei um eine Fortentwicklung des berühmten Zauberbesens von Harry Potter, nennen sie den Wein „Nimbus 2010“. Tatsächlich aber ist darin nur der Saft von Reben, die mehr als hundert Jahre alt sein müssen, weil sie aus der Vor-Reblaus-Ära stammen. Das Ergebnis ist sagenhaft: ein Retrowein, den die Altvorderen niemals erschaffen hätten, weil ihnen die Quantität wichtiger als die Qualität gewesen wäre.

Die Multikultur ist gelebte Realität

Nun, zwei Generationen später, darf man politisch korrekt feststellen, dass jeder fünfte Stuttgarter ein Ausländer ist und der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund bei knapp vierzig Prozent liegt. Bürgerinnen und Bürger aus 178 Nationen leben hier; die UN zählen 193 Mitgliedstaaten. Stuttgart ist zwar nicht so groß wie New York, eher ein Meltingpöttle, aber im Grunde doch nichts anderes als ein Schmelztiegel der Nationen. Die Multikultur ist gelebte Realität – wenn nur der doofe Nachbar nicht wäre.

Andere Wurzeln, eigener Krattel

Legendär ist die Zustandsbeschreibung, die der Schriftsteller, Journalist und Satiriker Thaddäus Troll einst über sich abgegeben hat: „Ich bin in Cannstatt geboren und lebe in Stuttgart, also in der Emigration. Denn ein Cannstatter hat ganz andere Wurzeln, hat seinen eigenen Krattel und will nichts mit Stuttgart zu tun haben. Der Stuttgarter bringt den Blick schwer über den Kesselrand hinaus. Stuttgart brodelt im Kessel, während Cannstatt frei und offen am Neckar und im Lande liegt.“

Stuttgart ist also, um noch einmal Troll zu zitieren, „der Wurmfortsatz von Cannstatt“. Was soll man darauf antworten? Dass dem Alt-Cannstatter solcherlei Ergüsse wie warmer Soich die Schenkel runterlaufen sollen, falls er immer noch nicht begriffen hat, dass seine Vorfahren 1905 dem Zusammenschluss mit der ungeliebten Residenz zugestimmt haben – und es irgendwann mal gut sein müsste mit dem Gejammer? Dass man darüber hinaus auch nicht mehr ergründen muss, weshalb der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibnitz anno 1669 ein Gutachten angefertigt hat, in welchem er beschrieb, „warum Cannstatt füglich zur Hauptstadt des Herzogthums Wirtemberg zu machen sei“?

Stuttgart 21 lässt grüßen

Doch schlussendlich bleibt es dabei: obwohl die ehrwürdige Oberamtsstadt am Neckar älter, bedeutender und schöner war als die Ansiedlung am Nesenbach, ist sie nicht zur Hauptstadt geworden. Den Spott darüber müssen die Cannstatter ertragen, weil auch das Wesen des Stuttgarters nicht nur vom Streben nach Harmonie geprägt ist, sondern weit mehr vom Eintreten für die eigene Überzeugung. Gerade diese in den schläfrigen achtziger und neunziger Jahren fast verloren geglaubte Eigenschaft der Stuttgarter hat sich zuletzt wieder Bahn gebrochen. Stuttgart 21 lässt grüßen.

Auch schon vor über hundert Jahren haben zwei Männer mit ihrem Beharrungsvermögen und ihrer Genialität gezeigt, was erreichbar ist. Von Cannstatt und von Stuttgart aus haben Gottlieb Daimler und Robert Bosch die Welt verändert. Hätte sie der Mut verlassen, als ihnen der Gegenwind der Gestrigen ins Gesicht blies, wäre die Herzgegend der Württemberger wohl kaum zur wohlhabenden Exportzentrale der Republik geworden. Es hätte natürlich auch schiefgehen können. Stuttgart 21? Lässt nochmals grüßen . . . 

Bocksbeiniger Homo suabiens

Und wieder ist sie da, die schwäbische Dialektik, diese ständig nach der einen oder anderen Seite ausschlagende Logik, die der Autor Helmut Pfisterer in so wunderbaren Begriffspaaren gesammelt hat wie: „Das Glas ist voll leer“, „Schrei du ruhig“, „Komm, gang m’r weg“. Und selbst in seiner guten Stube beharrt der bockbeinige Homo suabiens so lange auf seiner Position, bis er nicht mehr anders kann. Das ist freilich erst der Fall, wenn die Frau ihn nicht nur davon überzeugt hat, dass ihre Idee die bessere ist, sondern dass diese Idee auch so genial ist, dass sie nur von ihm stammen kann. Praktisch jedes schwäbische Volkstheater fußt auf dieser Formel: der bruddelige Vater schimpft über Gott und die Welt, bis die knitze Mutter ihm erklärt, dass Gott die Welt doch nach dem Bild des Vaters erschaffen hat. Dann weiß der Mann, wo er steht, und die Frau hat ihre Ruh.

Noch schwieriger wird’s nur, wenn es in der Stadt um Fußball geht. Auch da ist es ausgerechnet eine Cannstatter Institution gewesen, die nach dem Gräuel des Zweiten Weltkriegs zum Glücksfall für die Gesamtstadt Stuttgart wurde: der VfB. Selbst wenn es die Blauen auf den Golanhöhen zu Degerloch nicht wahrhaben wollen, weil es zu jener Zeit auch eine passable Kickers-Elf gab, so lohnt doch ein Blick in die Erinnerungen des legendären Sportreporters Hans Blickensdörfer.

Der einarmige VfB-Kapitän Robert Schlienz

Die erste Meisterschaft des VfB im Jahre 1950 „hat dieser Stadt Impulse gegeben, die durchaus vergleichbar sind mit denen, die das ganze Land packten, als Fritz Walter und seine Männer vier Jahre später als Weltmeister aus Bern zurückkehrten“, notierte der StZ-Mann in einem Band, der die fünfziger Jahre in Stuttgart beschreibt. Zwar könne eine Stadt auch ohne erstklassigen Fußballverein leben, „aber es würde dieser emsigen, tüftelnden und grantelnden Region am Mittleren Neckar doch viel fehlen“, wenn ihre sportlichen Träume nicht erfüllt worden wären. „Der Mann auf der Straße hat ein feines Gefühl dafür“, meinte Blickensdörfer – und auch dafür, was unbeugsamer Wille vollbringen kann: „Weit über den sportlichen Bereich hinaus drang das Beispiel des einarmigen Kapitäns Robert Schlienz, der die Mannschaft nach dem Berliner Endspielsieg nicht nur zu einer zweiten Deutschen Meisterschaft, sondern auch noch zu zwei DFB-Pokalsiegen führte.“

Übrigens ist jener vielen Jungen unbekannte Schlienz nicht nur Blickensdörfers Held in Ewigkeit gewesen – weswegen die Wolke, auf der beide sitzen, ohne Zweifel rot ist. Schlienz stammte aus Zuffenhausen, was die Freude der Stuttgarter an ihrem VfB zweifellos noch stärkte, weil der Verein in seinen besten Jahren eben nicht nur ein Cannstatter Phänomen war, sondern ein gesamtstädtisches.

Magnet für all die Doppelkennzeichen

Sechzig Jahre später ist das anders. Der VfB ist aus Stuttgart hinausgewachsen, hat sich sogar seiner Heimat entfremdet, seit er zum Magnet für all die Doppelkennzeichen geworden ist, die seit Jahren die Einfallstraßen in die Stadt verstopfen. Dutzendfach mehr LBs, WNs, ESs, BBs, HNs, RTs, GPs, TÜs pilgern zu den Heimspielen und später in den Perkins Park oder auf die Theo-Heuss, als Einheimische das tun. Ähnlich verhält es sich mit der Wilhelma und der Königstraße. Der Staatsgalerie und dem Kunstmuseum. Der Oper, dem Ballett und bisweilen sogar dem Kleinen Haus. Allesamt zentrale Orte sind das, aber bei Weitem nicht nur für die Stadt, sondern längst auch für das Land, deren Kapitale Stuttgart ist. Doch wer die Invasion der Provinz geißelt, stellt die Position der Landeshauptstadt infrage. Stuttgart gehört nicht nur den Stuttgartern. Die Stadt profitiert von den Berufspendlern und auswärtigen Vergnügungswilligen – wirtschaftlich und kulturell. Aber die Einheimischen sind auch klug genug, den einfallenden Truppen nicht alles zu verraten.

Heike und Christoph Ruck machen zum Beispiel einen der besten Trollinger Württembergs. Als handele es sich dabei um eine Fortentwicklung des berühmten Zauberbesens von Harry Potter, nennen sie den Wein „Nimbus 2010“. Tatsächlich aber ist darin nur der Saft von Reben, die mehr als hundert Jahre alt sein müssen, weil sie aus der Vor-Reblaus-Ära stammen. Das Ergebnis ist sagenhaft: ein Retrowein, den die Altvorderen niemals erschaffen hätten, weil ihnen die Quantität wichtiger als die Qualität gewesen wäre.

Tüfteleien für einen noch besseren Wein

Auf ihre Art sind die Rux – so nennen die beiden ihr Weingut in Mühlhausen – ein Abbild vieler heutiger Stuttgarter. In einem traditionellen Beruf tätig, haben sie ihr Metier daimlerartig in einer Garage begonnen. Inzwischen sind sie in einen größeren Schuppen umgezogen und tüfteln dort und im Wengert jeden Tag am Feind des Guten – dem Besseren.

Christoph Ruck ist ein Rei’gschmeckter; er entstammt einer Winzerdynastie aus Iphofen in Franken, was zwar weit entfernt ist, aber noch nicht ganz zum Migrationshintergrund reicht. Seine Frau Heike ist dagegen in Mühlhausen aufgewachsen, an der Uhlandshöhe zur Schule gegangen und früh ausgezogen, weil sie dem Mief der Heimat entfliehen wollte. Im Rheingau war sie und bemerkte rasch, dass das dortige Verhältnis von Sein und Schein nicht ihren Vorstellungen entsprach. Seit sie zurück ist, schätzt sie das schwäbische Understatement und den Wechsel aus Dorf und Stadt, der Stuttgart eigen ist. Ihre Weinproben veranstalten die Rux gerne mal in einem Offclub am Berliner Platz, und wenn das Tagwerk im Mühlhäuser Wengert noch Energie lässt, gehen sie in die angesagten Bars in der Jäger- oder Wilhelmstraße. Einen Widerspruch erkennen sie darin nicht, warum auch? Die Zeit des Entweder-oder ist vorbei. Es herrscht das Sowohl-als-auch.

Drei Identitäten in einer Brust

Auch Erhard Bruckmann hat da eine ganz pragmatische Sicht der Dinge. Qua Herkunft ist der Sohn des legendären Baubürgermeisters Hansmartin Bruckmann und Vorsitzender des Stuttgarter Verschönerungsvereins Degerlocher, qua Wohnsitz Killesberger, qua Überzeugung Stuttgarter. Drei Identitäten in einer Brust? Kein Problem, es geht noch mehr. Prüfe sich ein jeder selbst: je weiter entfernt von der Heimat, desto grober die Angaben zur Herkunft. 

Wird ein Birkacher beim Italiener um die Ecke gefragt, wo er wohnt, antwortet er mit seiner exakten Adresse – erste Identität. Fragt ihn ein Plieninger, nennt er Birkach als Heimstatt – zweite Identität. Will ein Ludwigsburger wissen, wo das Bett des Gefragten steht, sagt der: Stuttgart – dritte Identität. Es folgt Baden-Württemberg, vierte Identität, und spätestens beim Urlaub auf Mallorca ist’s dann nur noch Deutschland, weil der Gegenüber nach dem dritten Eimer Sangria keine nähere Erklärung mehr braucht – fünfte Identität, und Schluss. Doch Heimat sind sie allesamt.

54 Kilometer rund um die Stadt

1983 hat der Verschönerungsverein in Zusammenarbeit mit dem Schwäbischen Albverein den Stuttgarter Rundwanderweg angelegt – 54 Kilometer von der Geroksruhe über den Birkenkopf, die Doggenburg, das Schützenhaus in Weilimdorf und die Ludwigsburger Straße in Zuffenhausen bis zum Max-Eyth-See, Bad Cannstatt, Luginsland, Obertürkeim, Hedelfingen und zurück zur Geroksruhe. „Von vielen Stellen aus sieht man das, was Stuttgart ausmacht“, sagt Erhard Bruckmann, „München ist eine Stadt mit Kulisse, den Alpen. Köln ist eine Stadt mit Wasser, dem Rhein. Stuttgarts Merkmal ist die einzigartige Topografie, die der Stadt eine Zentralität gibt, die gleichzeitig heimelig ist.“

Stimmt! Und doch empfiehlt sich nochmals ein Abstecher nach oben, ehe irgendwer doch wieder anfängt, alles Stuttgarterische zu verklären. Der Killesbergturm bietet sich an, 43 Meter hoch, 2001 nach den Entwürfen von Jörg Schlaich eröffnet. Einen Aufzug gibt es dort nicht, nur Treppen. Macht nix. Auf dem Weg nach oben darf die Zeit ruhig auch mal schleichen.