Ein Neckartenzlinger Heimatbuch schildert die Jahre des Ersten Weltkriegs in nationalistischer Sprache. In dieser Form hätte das Buch nicht erscheinen dürfen, meinen Wissenschaftler. Der Herausgeber verteidigt es als zeitgenössische Quelle.

Neckartenzlingen - Nein, er habe sich nichts Böses dabei gedacht, als er das Manuskript seines Großvaters Fritz Reiff veröffentlichte, erklärt Volker Reiff. Schon gar nicht habe er mit dem Buch „Neckartenzlingen 1914-1918“ braunes Gedankengut verbreiten wollen. Die Aufregung, die das vor zwei Jahren erschienene Werk nun hervorruft, verstehe er nicht.

 

Es sind Passagen wie diese, die kritischen Lesern in Neckartenzlingen sauer aufstoßen: „Es kam im Januar und Februar 1918 sogar zu einem Streik der Munitionsarbeiter. Wie sollte da unser Heer, das im Westen zu einem letzten vernichtenden Schlag ausholen wollte, siegen können? Aber das war es ja. Diese Elemente wollten nicht, dass das deutsche Heer siegreich heimkehre, sonst wäre es mit der Verwirklichung ihrer parteipolitischen Ziele nichts geworden.“

Der Autor wettert gegen „vaterlandslose Umtriebe“

Fritz Reiff bemüht hier die Dolchstoßlegende, die in der Zeit der Weimarer Republik in nationalistischen Kreisen ein gängiges Erklärungsmuster für die Niederlage des Deutschen Reichs bot. Das Buch enthält mehrere Aussagen, die Anstoß erregen. Demonstrationen gegen den Krieg und Kriegsdienstverweigerungen in der Nachbarstadt Nürtingen etwa werden als „vaterlandslose Umtriebe“ bezeichnet, demokratischen Parteien wird eine „vergiftende und zerstörende Wirkung“ nachgesagt. Und die Arbeiter seien in ihrem „berechtigten Kampf um Recht und Anerkennung leider in das Fahrwasser jüdisch-marxistischer Elemente mit ihrer Lehre vom Klassenkampf und internationaler Verbrüderung“ geraten.

Als Helden erscheinen die aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten: „Der raue Krieg hatte alles Kranke und Morsche zerbrochen. Nur eine harte Weltanschauung konnte Halt und Stütze sein, und der weiche Mensch zerbrach in sich selbst. Geboren wurde der heldische Mensch. Da sah man, wessen ein Mann fähig ist. Wer hätte das im verweichlichenden Zivilleben vorher gedacht“, fragt der Dorfschullehrer Fritz Reiff. Diese und weitere Stellen des im Jahr 1937 begonnenen Manuskripts lassen Elisabeth Timm, die Direktorin des Seminars für Volkskunde und Europäische Ethnologie an der Universität Münster, aufhorchen. „Der Text von Fritz Reiff argumentiert kriegstreiberisch in der Semantik der Dolchstoßlegende und gegen die parlamentarische Demokratie. Der Autor weist sich so als Feind der Weimarer Republik aus“, sagt die Wissenschaftlerin.

Eine wissenschaftliche Einordnung des Textes fehlt

Laut Mathias Beer vom Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen ist die Publikation in mancherlei Hinsicht typisch für die Gattung Heimatbuch, der häufig ein „naives Geschichtsverständnis“ zugrunde liege. So enthalte „Neckartenzlingen 1914-1918“ durchaus wichtige Dokumente, etwa Feldpostbriefe und „wunderbare Fotoaufnahmen“. Diese stuft der Heimatbuchexperte Beer als „hervorragende Quellen“ ein, jedoch moniert er die Angaben dazu als teils unvollständig. Die Schilderungen vom Alltag zuhause sind Beer zufolge ebenfalls wertvoll. „Aber der Wert des Buches wird dadurch geschmälert, dass wohlschmeckende Äpfel mit verdorbenem Obst vermischt werden.“

Beer zufolge hätte das Manuskript veröffentlicht werden können, jedoch nur mit einer entsprechenden Kommentierung und wissenschaftlichen Einordnung. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass Leser den Text mit dem „gesicherten historischen Wissen des Jahres 2012“ verwechseln. Die beiden vom Herausgeber und vom Verfasser selbst eingangs des Buches vorgenommenen Distanzierungen allein bannten diese Gefahr nicht, erklärt Mathias Beer.

Die Gemeinde verkauft das Buch nicht mehr

„Ein Buch dieser Art sollte von jedem Leser als historisches Dokument angesehen werden“, schreibt der Herausgeber Volker Reiff in seinem Vorwort. „Es darf nicht jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden, denn es wäre falsch, manche Emotionen oder Beschreibungen in Worte unserer heutigen Zeit zu fassen.“ In seiner Anmerkung aus dem Jahr 1976 fordert zudem Fritz Reiff die Leser auf, „das Kriegsbuch als Dokument der damaligen Zeit mit ihren großen Verirrungen und Täuschungen“ zu betrachten. „Vollends nach den bösen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg kann man nur sagen: Nie wieder Krieg!“

Die Gemeinde Neckartenzlingen hatte für das in einer Auflage von 490 Exemplaren erschienene Buch im Amtsblatt geworben und es im Rathaus verkauft. Zunächst sei er sich der Problematik nicht bewusst gewesen, erklärt der Neckartenzlinger Bürgermeister Herbert Krüger. Inzwischen sei er jedoch sensibilisiert, und die Gemeinde verkaufe das Buch nicht mehr. Er sei froh darüber, so Krüger, dass das Thema nun öffentlich diskutiert werde. In großen Teilen des Gemeinderats werde die Problematik nicht gesehen. Erst vor wenigen Monaten hatte das Gremium es abgelehnt, Adolf Hitler die Ehrenbürgerwürde abzuerkennen. Begründung: mit dem Tod des Diktators am 30. April 1945 sei die Ehrenbürgerschaft automatisch erloschen.