Dass Gerlingen früher eine große Weinanbaufläche hatte und dass auch die Römer die heutige Stadt gekannt haben müssen – das wissen laut Jürgen Wöhler nur wenige Gerlinger. Der Vorsitzende des Heimatpflegevereins will dies ändern.

Gerlingen - Der Heimatpflegeverein Gerlingen kümmert sich seit 40 Jahren um die Geschichte Gerlingens, die Erhaltung von historischen Gebäuden und darum, dass auch Jugendliche die Historie ihrer Stadt kennen. Der Vereinsvorsitzende Jürgen Wöhler möchte aber noch mehr Menschen ansprechen.

 

Herr Wöhler, Sie haben im März 2018 den Vorsitz des Vereins übernommen. Was hat sich geändert?

Vordringlich war die Gewinnung neuer Mitglieder, um dem negativen Trend zu begegnen, den es leider bei vielen Geschichts- und Heimatpflegevereinen gibt. Wir hatten dagegen im vergangenen Jahr eine Zunahme auf inzwischen 285 Mitglieder, und zum 40-jährigen Jubiläum im Herbst 2019 wollen wir bei 300 Mitgliedern stehen. Denn mehr Mitglieder bedeuten mehr Einfluss auf städtische Entscheidungen und mehr Interaktion innerhalb des Vereins.

Worauf führen Sie den Zuwachs zurück?

Wir haben den Verein modernisiert, damit wir auch die bis 50 Jahre alten Gerlinger ansprechen, die für uns eine interessante Zielgruppe sind: Sie haben sich im Beruf etabliert, die Kinder sind aus dem Gröbsten raus und sie wissen, was Gerlingen an Heimatgefühl und Lebensqualität bietet.

Wie schaut diese Modernisierung denn aus?

Seit November 2018 haben wir eine sehr ansprechende und aktuelle Homepage sowie Mail-Korrespondenz mit den Mitgliedern. Das ist zwingend, wenn wir Mitbürger erreichen wollen, die den täglichen Umgang mit Handy und PC gewohnt sind. Ebenfalls neu ist unser Vereinsprospekt mit Hinweis auf die Homepage und einem Bild unseres zehnköpfigen Vorstands. Demnächst erneuert wird unser Flyer zum Stadtrundweg, der seine Entstehung unserer Initiative verdankt. Auf dieser Basis können wir intensiv auch jüngere Mitglieder werben.

Welche Aufgaben übernimmt der Verein in Gerlingen?

Eine lebenswerte Umgebung mit gut erhaltener Natur und einem stimmigen Stadtbild gehört für uns zum Heimatbegriff. Man soll sich in Gerlingen heimelig fühlen. Und dafür setzen wir uns ein. So haben wir uns erfolgreich für die Erhaltung des Gasthauses Hirsch eingesetzt, wie vor Jahren auch schon für das Rebmann-Haus und das Stadtmuseum. Und der „Plastikkreisel“ an der Füllerstraße soll auf meinen Vorschlag hin mit dem Ausbau 2020 zum Römerkreisel umbenannt worden. Denn was viele nicht wissen: die alte Römerstraße vom Cannstatter Kastell über Pforzheim nach Straßburg verlief zwischen den KSH-Fußballplätzen über die Studentenallee in der Waldsiedlung und dann entlang der heutigen Gemarkungsgrenze zu Leonberg. Für uns ist es wichtig, solche historischen Bezüge speziell auch für die Jugend erlebbar zu machen und deren emotionale Bindung an Gerlingen zu stärken. Deshalb haben wir einen Preis für die beste Abiturleistung im Fach Geschichte gestiftet, der in diesem Jahr erstmals am Robert-Bosch-Gymnasium vergeben wird. Er ist benannt nach Agnes Maisch, der ersten Vorsitzenden des Vereins von 1979 bis 1989.

Um alte Häuser kümmern Sie sich aber auch?

Ja, natürlich, wie am Beispiel Hirsch deutlich geworden ist. Doch lässt sich trotz unseres Einsatzes nicht alles erhalten. So müssen wir leider für das „Klösterle“ im Stadtrundweg einen Ersatz einfügen. Andere, sogar denkmalgeschützte Gebäude sind gefährdet und wir versuchen auf Eigentümer und die Stadt einzuwirken, damit sie erhalten und einer sinnvollen Nutzung zugeführt werden. Wer den Stadtrundweg mit unserem Flyer oder unter Nutzung der auf den Tafeln angebrachten QR-Codes abgeht, dem erschließt sich das historische Werden unserer Stadt vom Bauerndorf mit circa 2000 Einwohnern zur potenziellen Großen Kreisstadt mit 20 000 Einwohnern.

Das klingt nach einem anspruchsvollen Programm.

Und wir planen noch mehr. 75 Jahre nach Kriegsende im Frühjahr 2020 soll eine Broschüre „Gerlingen und der Zweite Weltkrieg“ in der Reihe unserer Heimatblätter erscheinen. Danach ist eine Veröffentlichung zum Weinbau in Gerlingen angedacht, denn Gerlingen hatte vor hundert Jahren noch 144 Hektar Weinberge, von denen heute nur noch sechs Hektar bewirtschaftet werden. Bis hinunter zur Brennerstraße am Ortseingang gingen die Weinberge damals. Allerdings ist die Qualität heute sicher um vieles besser als damals. Jeden zweiten Monat organisieren wir Vorträge oder Veranstaltungen, oft mit dem Stadtmuseum zusammen, oder wir machen Exkursionen. Dieses Jahr etwa wollen wir zur Eiszeitkunst auf die Schwäbische Alb nach Blaubeuren. In der Umgebung gibt es viele interessante und schöne historische Stätten, die aber leider zu Unrecht selbst in der Region kaum bekannt sind. Ich denke an die Laurentiuskirche in Hemmingen, die Veitskapelle in Mühlhausen, aber auch das Teehaus im Weissenburgpark in Stuttgart oder die Weissenhof-Siedlung.

Woran liegt das?

Die Schwaben sind nicht gut im Marketing nach dem Motto: wenn es gut ist, verkauft es sich von alleine und wenn es schlecht ist, sollte man es gar nicht propagieren. Das gilt auch in unserer Stadt. Die Zahl der Gerlinger, die wissen, dass hier die Römerstraße verlief, dass wir bedeutende Funde aus Jungsteinzeit und der Römerzeit haben, ist überschaubar. Auch die Weinbauvergangenheit kennen nur wenige. Das sind Dinge, die wir ins Bewusstsein rufen wollen, zumal durch die Mobilität der Bevölkerung infolge Ausbildung, Umzügen und beruflichen Veränderungen der Bezug zur Heimat und Umgebung gefährdet ist. Andererseits wächst gerade dadurch die Sehnsucht nach Heimat als festem Bezugspunkt, wie man aus der zunehmenden Popularität des Begriffs bei Politik und Kommerz schließen kann. Wenn wir die Stadt Gerlingen so erhalten, dass sich alle Generationen damit identifizieren können, leisten wir einen großen Beitrag gegen zunehmende Anonymisierung und Entfremdung. Das sehen wir als wesentliche Aufgabe des Vereins für Heimatpflege, zumal ehrenamtliches Engagement immer da gedeiht, wo man sich wohlfühlt.