Im London des Jahres 1902 ist eine Scheidung noch ein ruinöser Skandal. Weshalb Charles Laughton in Robert Siodmaks wieder zu entdeckendem Krimi „Unter Verdacht“ andere Befreiungsmaßnahmen ins Auge fasst.

Stuttgart - Cora Marshall ist ein Mistvieh, daran lässt Robert Siodmaks „Unter Verdacht“ keinerlei Zweifel. Die von Rosalind Ivan haarsträubend keifig porträtierte Xanthippe hat keinerlei Spaß am Leben, von einer Ausnahme abgesehen: von der Freude, sicherzustellen, dass auch ihr Mann Philip Marshall noch weniger Spaß hat. Charles Laughton spielt den sanften Dulder mit einer effektiven Zurückhaltung, die man nicht oft an ihm gesehen hat.

 

„The Suspect“, so der Originaltitel, speilt im London des Jahres 1902. In dem feinen Tabakladen, als dessen Geschäftsführer Philip agiert, werden „an Damen keine Zigaretten verkauft“, wie ein Angestellter versichert. Das Korsett der öffentlichen Moral ist eng geschnürt, eine Scheidung für Philip ausgeschlossen: danach wäre er in seiner Position nicht mehr haltbar.

Diesen Zucht- und Sittenwahn akzeptiert er selbst dann, als er die jüngere Mary (Ella Raines) kennen lernt und die beiden sich verlieben. Über halbwegs schickliche gemeinsame Restaurant- und Theaterbesuchen geht die Beziehung nicht hinaus. Und selbst das gibt Philip auf, als Cora ihm nachschnüffelt und damit droht, Skandal zu machen. Erst als Cora sich daran macht, Mary trotzdem als Ehebrecherin zu verleumden, wird Philip zum Mörder.

Wirklich nicht mehr als ein halber Noir?

Der im Dezember 1944 uraufgeführte „Unter Verdacht“ ist ein seltsamer Mix aus nicht allzu historischem Drama und modernem Film noir, und die meisten Rezensionen im Netz sowie das kleine Essay von Frank Arnold im Beiheft der deutschen DVD gegen auf diesen Aspekt des Films besonders ein – was auch heißt, sie bescheinigen „Unter Verdacht“ etwas Unentschiedenes.

Das sollte nicht weiter verwundern, hat der deutsche Emigrant Robert Siodmak (1900-1973) den Film noir doch mit einigen Klassikern wie „The Killers“ und „Dark Mirror“, beide aus dem Jahr 1946, mit geprägt. Sieht man einen eher unbekannten Film von ihm das erste Mal, ist die Hoffnung auf ein weiteres Noir-Schmuckstück groß – und die Enttäuschung bei „Unter Verdacht“ groß, trotz einiger lupenreiner Noir-Szenen in der nächtlichen Großstadt.

Löst man sich von dieser Erwartungshaltung, ist „Unter Verdacht“ allerdings ein sehr gelungener Film. Er arbeitet nicht nur mit dem Moralwahn in der Geschichte, sondern mit dem um die Geschichte herum. In Hollywood ist es damals undenkbar, dass ein Mörder ungestraft davonkommt. Fast von der ersten Szene an aber möchte man dem sympathischen Philip die Kraft zum Mord wünschen. Und als Cora tot ist und der Mann mit Mary für eine Weile glücklich wird, möchte man dieser Beziehung Zukunft garantieren können – aber man weiß, dass eben diese Erzählmaschine, die uns Philip und Mary vorgestellt dun den Mord verständlich gemacht hat, dieses Glück nicht dulden kann.

Der Polizei ist alles zuzutrauen

Das sorgt für enorme Spannung, für den innigen Wunsch der Zuschauer, das Ende möge sich bitte noch hinauszögern. Man könnte natürlich auch sagen, „Unter Verdacht“ sei ein Film, der uns mustergültig korrumpiere: der Krimi als großer Abschleifer der Tathemmung.

Als Drehbuchschwäche könnte man geißeln, dass der Scotland-Yard-Ermittler, der Philip nach dem als Unfall getarnten Tod von Cora zusetzt und immer wieder nachbohrt, außer Vermutungen nichts in der Hand hat. Auch das schlüssigste So-könnte-es-gewesen-sein ist bedeutungslos, wenn es nicht von Beweisen flankiert wird, dass es so war. Philips die Handlung bestimmende Angst vor dem Handeln der Justiz kann man also als unnötig tadeln.

Man kann aber auch umgekehrt denken: wenn der gar nicht dumme Philip sich so vor Polizei und Gerichten fürchtet, obwohl die nichts Konkretes gegen ihn in der Hand haben, was sagt uns das dann über die kleinbürgerlichen Erfahrungen mit und Erwartungen an diese Institutionen? Wir befänden uns dann wie in den Filmen Hitchcocks in einer Welt, in der man der Polizei alles zutrauen muss, von der Schikane über die Erpressung bis hin zur Beweisfälschung. Und das ist dann noch mal eine weitere Ebene des Gruselns in „Unter Verdacht“, der hier in keiner aufwändigen, makellosen Restauration, aber durchaus anschaubar vorliegt.

Robert Siodmak: „Unter Verdacht“. Koch Media DVD. 82 Minuten. Extras: 12seitiges Booklet mit einem Text von Frank Arnold, Hörspielfassung des Films aus dem Jahr 1945 mit den Originaldarstellern.