Zwangstrennung von Geschwistern, von Umarmungen, sexuelle Übergriffe und exzessive Gewalt: Der Bericht des Aufklärungsinstituts IPP dokumentiert , wie grausam und demütigend im ehemaligen Kinderheim St. Josef in Hoheneck die Kinder behandelt wurden.

Wer heute das Gelände des Klosters der Karmelitinnen in Hoheneck betritt, wird von alten Bäumen, hellem Grün und viel Licht und Wärme empfangen. Der Park rund um die Gebäude war auch für die Heimkinder ihre Oase, ein Rückzugsort für kurze Momente der Unbeschwertheit. „Dieser Park war für uns ideal, wir waren eine verschworene Gemeinschaft“, berichtet ein Mann,der in den 50er- und 60er Jahren in dem Heim gelebt hat.

 

Doch abseits des Parks hatte das Heimleben wenig Wärme und Licht zu bieten, wie der 170 Seiten dicke Bericht des Münchner Forschungsinstituts IPP festhält, der vorige Woche vorgestellt wurde. Schläge, grausame und willkürliche Strafen, Distanz und Kälte – und auch systematischen Missbrauch durch den Jugendpfarrer Wilfried Metzler – systematische institutionelle Gewalt, so das Fazit. Wie konnte es dazu kommen?

Zwei Schwestern

Im Zentrum der Macht stand eine der Nonnen, Schwester Remigia, die von 1958 bis 1984 in dem Heim arbeitete. „Sie wurde von den Mitarbeiterinnen als sehr mächtig wahrgenommen, aber auch von den Kindern sozusagen als böser Geist gesehen“, schreibt Elisabeth Helming in ihrem Bericht. Ein ehemaliges Heimkind beschreibt sie so: „Ich weiß, das kein Mensch wirklich bösartig ist, aber die Schwester habe ich so empfunden.“ Kinder und Mitarbeiter hätten Angst vor ihr gehabt: „Sie war unnötig böse, und sie hatte womöglich auch noch Spaß daran.“ Besonders schlimm trieb es von 1967 bis 1970 Schwester C.

Ihr Umgang mit den Kindern muss so gewalttätig gewesen sein, dass sie vom Provinzialhaus der Karmelitinnen abgezogen wurde – aber erst, als man befürchten musste, die Öffentlichkeit könnte davon erfahren. Die Provinzoberin schrieb dazu 1970: „Die Leute, die zum Kindergarten kommen, hören alle Grobheiten heruntergeschrien.“ Ein Schulrektor notierte in einem Brief, dass ein Kind „blaue Streifen habe, das Gesicht zerkratzt und bunte Beulen.“

Ein bislang unbekannter Aspekt aus dem Bericht: Säuglinge und Kleinkinder wurden ruhiggestellt – „vermutlich mit ‚Contergan“, heißt es in der Studie. Größere Kinder hätten Klosterfrau Melissengeist bekommen.

Kälte und Lieblosigkeit

Noch schlimmer als die allgegenwärtige Gewalt empfanden die Heimkinder die Kälte und Distanz. Kontakt und liebevolle Zuwendung waren verboten. Das Gegenteil wurde vollzogen: Die Trennung von den Geschwistern etwa. „Mein Bruder und ich wurden getrennt, mit voller Absicht, weil wir nicht brav gewesen waren. Ich sah ihn nur beim Essen oder teilweise draußen im Park.“ An den Folgen dieser und anderer Demütigungen leiden viele Heimkinder bis heute. Besonders eindrücklich schildert dies eine Frau, die als Kind von ihrem Bruder getrennt wurde.

„Ich hatte immer das Bedürfnis, ihn zu schützen. Bis zu seinem Tod 2014. (...) Ich habe mich lange Zeit noch gefragt, ob ich nicht genug auf ihn aufgepasst habe und ihm doch noch Hoffnung auf sein Leben zu geben. Er war sehr sensibel und somit verletzlich. Das perfekte Opfer.“

Die Distanz und die Herzlosigkeit hatte viele Ausprägungen. Kleinkinder wurden an einer Toilettenbank festgebunden, bis sie ins Töpfchen gemacht hatten. Zeigte eine Schwester Mitgefühl, wurde sie schnell versetzt. 1980 bis 1981 war dies der Fall, alle nannten sie „Big Mama“ – sie umarmte die Kinder, tobte mit ihnen rum. „In einer Nacht– und Nebelaktion war sie dann weg“, erinnert sich eine Frau, die in den 70ern im Heim war. Sie wurde nach München versetzt. „Liebevoller Umgang mit Kindern wurde nicht gern gesehen“, sagt Helming.

Ein Heimkind äußerte zum Abschied einen Wunsch: „Weißt du: Ein einziges Mal, nimm mich in den Arm, nur ein einziges mal.“ Das ging dann nur, weil zwei Kinder aufgepasst haben – mit 16 Jahren gab es zum ersten Mal im Leben heimlich eine kurze Umarmung. Wer Schwäche zeigte, wurde dafür sogar bestraft. Wenn ein Kind verzweifelt war, weinte und dringend Trost brauchte – wurde es stattdessen geschlagen. Ein Mann, der in den 70er/80er Jahren im Heim war, schildert es so in dem IPP-Bericht:

„Man hat noch einen draufgekriegt mit der lachenden Begründung: Jetzt hat du einen Grund zum Heulen. (...) Noch mal psychischer Druck. Dann hieß es: „Jetzt kannst du Heulen. Und wenn du fertig bist, Zähne putzen, ab ins Bett.“ Also bin ich liebe-los aufgewachsen, wortwörtlich, ohne Liebe.“

Abwertung und Demütigung

Es gab keine persönlichen Gegenstände, keinen Raum für Privatheit, Taschengeld wurde eingezogen. Geschenke der Eltern wurden einkassiert, womit oft der einzige Bezug zur Familie zerstört wurde. „Wem dieses Gefühl genommen wird, der wird zum Habenichts“, sagt Helming. Außenkontakte wurden verboten, es gab keine Freundschaften außerhalb des Heimes. Angst war das Grundgefühl der Kinder. „Immer Angst“, schreibt eine Frau, „irgendetwas falsch gemacht zu haben. Etwas Falsches gesagt zu haben. Angst, abends einzuschlafen.“

Negative Prophezeiungen waren im Josefsheim an der Tagesordnung. Am tiefsten getroffen hat die Kinder die Herabsetzung ihrer Eltern. „Ich musste mir jeden Tag anhören, dass aus mir niemals etwas werden kann, ich werde immer in der Gosse enden wie meine Mutter“, erzählt eine Frau von ihren Erinnerungen aus den 70ern. Besonders unverheiratete Mütter wurden „gnadenlos abgewertet“, sagt Helming. Zwei ehemalige Heimkinder zitieren die Nonnen wie folgt in dem Bericht:

„Du bist wertlos, du wirst keine Ausbildung machen, du wirst Straßenkehrer, zur Müllabfuhr gehen. Schau mal, wie du in der Schule bist. (...) Unser Blut sei sowieso verseucht, die Dämonen seien bei uns drin. (...) Wir seien ja keine Gotteskinder, sondern ein Produkt der Sünde. Und ‚das’ müssten sie dann auch noch beaufsichtigen.“

Sexuelle Gewalt

Körperlichkeit war verpönt, Über Aufklärung wurde nie gesprochen. Eine Frau berichtet davon, wie sie in die Pubertät kam. „Ich glaube, ich sterbe, ich blute“, rief sie verzweifelt zu einer Schwester. Sie wurde grob am Handgelenk gepackt, in die Toilette gezerrt, es wurde abgeschlossen und eine Packung Binden in die Hand gedrückt. In diesem Klima des Schweigens gab es jedoch Übergriffe. So erzählt eine der Befragten von einer Bestrafung in den 60er-Jahren:

„Sie hat einen übers Knie gelegt, die Hosen herunter gezogen, auf den nackten Arsch geschlagen. Bis Blut kam. Und dann hat sie auch gefummelt. Und dann mussten wir beten: Lieber Gott, ich mach das nie mehr, und danke dir, dass die Strafe gekommen ist. Nackt mussten wir uns niederknien und an ihr Kreuz beten.“

Eine inzwischen verstorbene Erzieherin wurde von Heimkindern als Täterin in den 70er-Jahren benannt. Sie soll sie Kinder sexuell missbraucht und ausgebeutet haben. Die Mädchen wurden nachts aus dem Bett geholt, ein traumatisches Erlebnis. „Es war schwierig für sie, Traum und Realität zu unterscheiden“, schreibt Helming. Ein Mädchen berichtet davon, dass sie sich einen Socken in den Schlüpfer gesteckt hat: „Am nächsten Morgen habe ich immer geguckt, ob die Socke noch drin ist. Oft war sie weg. Ich konnte nie einschlafen, ich habe gewartet, bis sie uns aus dem Bett holt.“

Diese Erzieherin war auch Komplizin für den inzwischen verstorbenen Pfarrer Wilfried Metzler, dem nach dem Gottesdienst Mädchen in extra kurz geschnittenen Kleidchen zur „Beichte“ zugeführt wurden. Metzler war freundlich und herzlich – er hat die Mädchen etwa auf seinem Pferd reiten lassen. Das Vertrauen nutzte er laut IPP-Bericht aus, um sie „schwer sexuell zu missbrauchen“, wie es heißt. Besonders perfide: Die Kinder waren froh, eine Vertrauensperson gefunden zu haben. „Oh toll, endlich einer wo mal redet“, berichtet eine Betroffene, „und dafür musstest du aber sein Glied streicheln.“ Auch wurden die Mädchen zum Oralverkehr gezwungen. „Das ist für mich heute noch zum Erbrechen“, berichtet ein Opfer. Sie hat ihr Leben lang keine Beziehung zu einem Partner aufbauen können.

Der Diözese müsse das bekannt gewesen sein, heißt es in dem IPP-Bericht Pfarrer Metzler wurde nach Guatemala versetzt. „Solche Versetzungen können möglicherweise ein Indiz sein“, sagt Florian Straus, der Leiter des IPP-Instituts.

Die Folgen

Viele ehemalige Heimkinder taten sich schwer, im Leben Fuß zu fassen. Ein Beispiel sind die beiden eingangs erwähnten Geschwister, die bewusst getrennt wurden. Die Schwester, die ihren 2014 verstorbenen Bruder im Heim nicht beschützen konnte, erzählt davon, wie ihr Bruder die Realschule ohne Abschluss verließ, eine Ausbildung abbrach, sich verschuldete, gar auf die kriminelle Bahn kam, Alkohol trank, Suizidversuche unterbagn. „Ein Typ Mensch, der ein Leben lang auf der Suche nach Anerkennung, Geborgenheit und Liebe war“, schreibt die Schwester. Sie richtet an ihren verstorbenen Bruder eine bewegende Botschaft:

„Die Aufarbeitung kostet uns alle immense Kraft und Geduld. Aus ein paar ehemaligen Heimkindern wurde eine ganze Gruppe. (...) Berichte zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen stehen in der Zeitung. Du hättest deine wahre Freude daran. (...) Ich habe dich lieb, kleiner Bruder, du fehlst mir jeden Tag in meinen Gedanken.“