Die Berichte über Gewalt, Lieblosigkeit und Demütigungen im ehemaligen Kinderheim St. Josef in Ludwigsburg-Hoheneck stoßen eine Debatte an. Die Kirche will aufklären – doch es gibt viele Hürden.

Ludwigsburg - Die Vorwürfe einer Gruppe von ehemaligen Heimkindern aus Ludwigsburg-Hoheneck haben hohe Wellen geschlagen. Von den 1950er bis in die 1980er Jahre sollen Nonnen des Karmelitinnen-Ordens als Betreiber des Heimes die Kinder regelmäßig geschlagen, mit drakonischen Strafen gedemütigt und lieblos behandelt haben. Viele klagen über psychische Langzeitfolgen wie Angstzustände oder emotionale Abstumpfung. Nun fordern ehemalige Bewohner des Kinderheims eine unabhängige Aufklärung außerhalb der Kirchenhierarchien.

 

Die Diskussion über die geeignete Form der Aufklärung nimmt damit Fahrt auf. In einer ersten Reaktion hatte Edith Riedle, Hausoberin des Ordens in Hoheneck, erklärt, es gäbe keinerlei Aufzeichnungen über das 1992 geschlossene Heim. Riedle, die auch Mitglied der Gesamt-Ordensleitung im holländischen Sittard ist, hatte zunächst vermutet, alle im Heim eingesetzten Schwestern seien verstorben. Inzwischen gibt es Hinweise, dass einige der Schwestern, die das Heim betrieben haben, noch in den Niederlanden und in Berlin leben.

Der Dekan Alexander König will alles aufarbeiten

Damit wächst auch innerhalb der katholischen Kirche der Druck. „Ich bin daran interessiert, die Vorwürfe aufzuklären“, sagt Alexander König, der Ludwigsburger Dekan. Am 22. März soll es im Hohenecker Kloster eine Klausurtagung von Ordensschwestern, Dekanat und den internen Aufklärern von Caritas und Diözese geben, bei der auch Gerburg Crone teilnehmen wird, die Leiterin der landesweiten Missbrauchs-Anlaufstelle der Caritas.

„Ich gehe davon aus, dass es der Aufklärung bedarf“, sagt Crone. Zunächst müsse überlegt werden, wie das auf einer persönlichen Ebene geschehen könne – aber auch welche Konsequenzen für die Strukturen vor Ort gezogen werden müssten. Crone: „Wir werden alles dafür tun, dass auch der Orden zu seiner Verantwortung steht.“

Allerdings stößt das Angebot der Aufklärungsstellen der Caritas und der Diözese Rottenburg-Stuttgart, sich die Berichte der ehemaligen Heimkinder anzuhören, bislang auf viel Skepsis. „Ich habe keinerlei Vertrauen in kirchliche Institutionen“, erklärt etwa Corinna Hofmann, ich befürchte, dass wir als Lügner dargestellt werden. Aber was wir berichten, ist die Wahrheit.“ Bislang haben sich nur zwei ehemalige Heimkinder aus Hoheneck bei der Caritas-Anlaufstelle gemeldet.

Kann ein unabhängiger Aufklärer helfen?

Das überrascht Birgit Meyer nicht, die bis Ende 2018 im wissenschaftlichen Beirat der landesweiten Anlaufstelle für Heimkinder saß: „Man traut den kirchlichen Stellen nicht, weil oft der Schutz der kirchlichen Würdenträger wichtiger war als die Aufklärung.“

Daher gibt es Überlegungen, einen externen Aufklärer einzuschalten. „Mit einer unabhängigen Aufklärungskommission würde ich zusammenarbeiten“, sagt etwa das Ex-Heimkind Corinna Hofmann. Der Ludwigsburger Dekan Alexander König erklärt dazu: „Darüber denken wir auch nach. Auch, um nicht in den Verdacht zu geraten, wir wollten etwas vertuschen.“ Er könne sich auch eine Begegnung von Heimkindern und Schwestern vorstellen.

Wie glaubwürdig ist die Entschuldigung des Ordens?

Auf unterschiedliches Echo stößt eine vor zwei Wochen geäußerte pauschale Entschuldigung der Oberin Edith Riedle für erlittenes Unrecht. Sie hatte gegenüber unserer Zeitung erklärt, man habe in der Vergangenheit nie Hinweise auf Missstände erhalten, aber: „Es tut uns dennoch leid.“

Manche Heimkinder loben diesen Schritt und sagen: „Das hören wir gerne.“ Anderen geht das nicht weit genug. „Die Entschuldigung des Karmelitinnen-Ordens ist lächerlich“, sagt Corinna Hofmann, „das ist absolut unglaubwürdig.“ Und Caroline Hetzel, die heute in Tübingen lebt, hält dies gar für einen „Schlag ins Gesicht“ und fragt: „Wofür entschuldigt man sich, dass der Kaffee zu kalt war, oder dass es uns im Heim nicht gefallen hat?“

Einige Heimkinder haben positive Erinnerungen

Eine Gruppe von ehemaligen Heimkindern widerspricht jedoch der negativen Darstellung der Heimzeit. Etwa Thomas W., der nun in Reutlingen lebt. „Die mir zugeordnete Schwester Gabriela hat sich übermenschlich angestrengt“, sagt er. Auch habe es nicht an Herzlichkeit gefehlt: „Ich habe Zuneigung erfahren und durfte im Verein musizieren.“

Oder Bernadette Lux, die in der Nähe von Regensburg wohnt, sie lebte von 1962 bis 1965 im Heim St. Josefs. „Der Artikel hat mich tief berührt“, schreibt sie, „ich konnte es zuerst nicht glauben, meine Erfahrungen waren sehr gut.“ Die Schwestern seien „kinderlieb“ gewesen, es habe oft Wackelpudding mit Sahne gegeben, niemals sei sie geschlagen worden: „Die Schwestern wären dazu gar nicht fähig gewesen“, schildert sie.

Marc F., der 1971 in das Heim kam, hält die Vorwürfe gar für völlig falsch: „Niemals musste ein Kind Erbrochenes wieder essen, damit der Teller leer war.“ Auch habe es keine Fälle exzessiver Gewalt und ständiger Demütigungen gegeben.

Ein ganzer Teller Ketchup als Strafe

Demgegenüber beteuern andere Bewohner, genau dies erlebt zu haben, sie berichten von grausamen Strafen. „Ein Mädchen hat sich einmal Ketchup aus der Küche zum Naschen geholt“, erzählt ein Ex-Heimkind, „zur Strafe musste sie einen riesigen Teller davon aufessen. Sie mag bis heute kein Ketchup.“ Corinna Hofmann erzählt davon, dass ein mongoloides Kind besonders oft drangsaliert wurde: „Es hat immer ins Bett gemacht und wurde auf den nackten Po geschlagen. Wie kann man mit einem behinderten Kind so umgehen?“

In vielen Fällen wird auch von Kinderarbeit berichtete: Stundenlang habe man Bastelarbeiten in einem dunklen Raum erledigen müssen, erzählt etwa Caroline Hetzel: „Das wurde dann verkauft, was wir als Zwangsarbeit empfanden. Ich frage: Was ist mit dem Geld passiert?“

Es gab auch gutmütige Schwestern

Wie sind die abweichenden Schilderungen erklärbar? Aus den Gesprächen mit ehemaligen Bewohnern lässt sich ableiten: Die Behandlung der Kinder hing vielleicht davon ab, welche Oberin das Heim leitete und welche Schwestern eingesetzt wurden – und ob die Kinder eher gehorsam oder aufmüpfig waren. Manche waren mutmaßlich beliebt, manche weniger.

So werden etwa Schwester Longina oder Schwester Gertrudis, die in den 60er Jahren dem Heim zugewiesen waren, als liebevoll und freundlich beschrieben. Mit Einsetzung der Oberin Remigia in den 70er Jahren soll plötzlich ein ganz anderer Ton geherrscht haben. Das bestätigen sogar damalige Kinder wie Thomas W., der insgesamt ein positives Bild des Heimes zeichnet. Für Ulrike Zöller, die bis Ende 2018 den Beirat der landesweiten Anlaufstelle für Heimkinder geleitet hat, sind die unterschiedlichen Erinnerungen nicht ungewöhnlich: „Was für die einen schrecklich war, empfanden andere als normal.“

In einem Punkt sind sich alle ehemaligen Heimbewohner einig: Die Schwestern hätten überwiegend emotionale Distanz zu den Kindern gewahrt. Ein Ex-Heimkind erzählt das so: „Zum 16. Geburtstag hat man mich gefragt: ‚Was wünschst du dir?’ Meine Antwort: Dass Sie mich ein einziges Mal in den Arm nehmen, Schwester.“