Der Heimskandal in Hoheneck wird aufgearbeitet. Der frühere Jugendamts-Leiter Roland Stäb berichtet, wie er 1981 als linker Sozialarbeiter auf das konservative Heim traf – und warum es 1992 geschlossen wurde.

Ludwigsburg - Roland Stäb sitzt an einem Tisch mit grüner Decke in seinem Haus in Neckargröningen. Seit einem Jahr hat der 65-Jährige die Leitung des Jugendamtes im Kreis abgegeben. Die Berichte ehemaliger Heimkinder über Misshandlungen, Gewalt und Lieblosigkeit in dem 1992 geschlossenen Hohenecker Heim St. Josef hat er mit Erschrecken gelesen. Das autoritäre Weltbild, das Regelkorsett und die Züchtigung als Mittel der Erziehung widerspricht so ziemlich allem, was Stäb in seinem Studium gelernt hat.

 

Immer wieder hat er mit dem Heim zu tun gehabt, 2013 stieg er zum Leiter des Jugendamtes auf – und implementierte in dessen schwierige Arbeit liberales Denken. Aufgewachsen ist er in Bayern, nach dem Studium an der Hochschule Esslingen kam er 1981 als Sozialarbeiter des Landkreises nach Ludwigsburg. „Ich war geprägt von der 68er-Bewegung“, erzählt er. Tatsächlich hat er auch einmal ein Lehrbuch von Ulrike Meinhof in der Hand gehabt.

Roland Stäb war von der „Heimkampagne“ geprägt

Das allerdings wurde geschrieben, lange bevor sie mit der RAF in den gewaltsamen Untergrund abdriftete. 1965 hat Meinhof als erste Journalistin über repressive Systeme in Kinderheimen berichtet. Daraus erwuchs die sogenannte Heimkampagne, die recht zivil Mitbestimmung, Ausbildungsmöglichkeiten, kleinere Gruppen und dezentrale Einrichtungen für Heimkinder forderte. Für solche Ziele hat sich auch Roland Stäb während seines Studiums engagiert und trat in die SPD ein. „Im Prinzip galt damals noch das Jugendwohlfahrtsgesetz aus dem Jahr 1922“, sagt er.

Da ging es um Fürsorge, Kinder wurden als Objekte gesehen, Abweichungen als Fehler, und Repression war ein übliches Mittel der Erziehung. Stäb entwickelte ein völlig anderes Weltbild – und wollte dies in seinem Beruf in der Praxis umsetzen. Mit diesem Anspruch trat er 1981 zum ersten Mal auf das katholische Heim.

Dieses wurde vom Karmelitinnen-Orden seit 1930 geführt. Einer hierarchischen Organisation jenseits der Kirchenstrukturen, lediglich der Glaubenskongregation in Rom unterstellt. „Ich habe die Schwestern als herzlich empfunden“, sagt Stäb, „aber sie lebten in einer anderen Welt“. Die Ordensmitglieder wohnten mit den Kindern zusammen in Gruppen.

Konflikte zwischen Reformädagogik und Ordensregeln

Sie fühlten sich als Beschützer, die fehlgeleitete Kinder wieder auf den rechten Pfad bringen mussten. Oder sie von unkeuschen Gedanken befreiten. „Wenn da ein Mädchen in engen Jeans oder bauchfrei herumlief, galt das als triebhaft“, erinnert sich Roland Stäb, „die Schwestern hatten Schwierigkeiten, das zu verarbeiten“. Es prallten Welten aufeinander. Hier die Karmalitinnen in ihrer grauen Ordenstracht, die den Weisungen der Oberin aus Holland unterworfen waren.

Sie lebten noch das Ideal ihrer Ordensgründerin Anna Maria Tauscher, die 1891 in Berlin das erste Josefsheim für Waisenkinder gegründet hat. Diese empfand sich als „Instrument von Gottes Hand“, um den Kindern Barmherzigkeit zu spenden. Der Orden trägt den Namenszusatz „zum göttlichen Herzen Jesu“, die Ordensgründerin schrieb 1938 kurz vor ihrem Tod: „Meine größte Sehnsucht ist, vom Himmel aus Tränen zu trocknen und Wunden zu heilen.“

Auch das Jugendamt hat Fehler gemacht

Wie konnte nun ein junger Sozialarbeiter daherkommen und behaupten, ihre von ganz oben legitimierte Pädagogik sei überholt? Das löste Konflikte aus. „Wir haben versucht, alle Beteiligten an einen Tisch zu holen“, erinnert sich der 65-Jährige. Schwestern, Eltern, Sozialarbeiter – und die Kinder. Denn die sollten mitreden und mitentscheiden dürfen. „Doch diese Pädagogik war den Schwestern fremd, sie haben es nicht verstanden“, erzählt Roland Stäb. Selbstkritisch räumt er ein, dass das Jugendamt in den 60er und 70er Jahren oft froh war, Kinder aus Problemfamilien ins Josefsheim abschieben zu können. „Oft hat man erst wieder von ihnen was gehört, wenn sie volljährig waren“, erzählt er. Außer schriftlichen Jahresberichten erhielten sie kein Feedback.

Dies änderte sich in den 80er Jahren, eine Liberalisierung kam in Gang, die 1991 im Kinder- und Jugendhilfegesetz festgehalten wurde. Die meisten Kinderheime reformierten sich, es gab dezentrale Wohngruppen statt großer Einrichtungen hinter Mauern, Gewalt war nicht mehr erlaubt, Kinder wurden als Subjekt ernst genommen, ihre Ausbildung wurde gefördert.

Das Hoheneck-Heim ist aus der Zeit gefallen

Doch das katholische Josefsheim in Hoheneck, so hat es Roland Stäb in Erinnerung, hat diese Entwicklungen nicht nachvollzogen. „Es blieb im Erziehungsbild der 60er und 70er Jahre stehen“, sagt er. Am Ende hatte er den Eindruck, die Schwestern seien müde und ausgelaugt. Das räumt der Orden selbst ein, die örtliche Oberin Schwester Edith Riedle, die Anfang der 90er Jahre die Leitung des Hohenecker Klosters übernommen hat, hatte zu wenige und überalterte Schwestern. Sie entschied, das Kinderheim zu schließen. Zuletzt diente es als Auffangstation für Notfälle.

Stress, Überforderung und das enge Weltbild des Ordens: Das sind in den Augen von Roland Stäb auch mögliche Erklärungen für „pädagogisch nicht angemessene Reaktionen“, wie er es nennt. Von Gewalt und Misshandlungen hat er selbst allerdings nichts mitbekommen: „Da wäre ich hellhörig gewesen und war durch mein Studium sensibilisiert.“ Das bedeutet aber aus seiner Sicht nicht, dass die Schilderungen der Heimbewohner unglaubwürdig sind. Als Sozialarbeiter hat er oft erlebt, dass Heimkinder misstrauisch waren und ihre Traumata nicht offenbart haben.

So war das Josefsheim aus der Zeit gefallen und wurde nach 62 Jahren geschlossen. Roland Stäb hofft auf einen Verständigungsprozess und sagt: „Es ist erschreckend, was in vielen Heimen passiert ist.“