Die Schallplatte feiert ein großes Comeback. Woher kommt die neue Beliebtheit? Ein Gespräch mit einem, der immer an Vinyl geglaubt hat: Helmut Faber, Gründer des Stuttgarter Plattenladens Second Hand Records.

Stuttgart - Der Plattenladen Second Hand Records liegt in der Nähe des Berliner Platzes in der Leuschnerstraße 3. Passanten bleiben vor dem Schaufenster stehen, blättern die vor dem Laden aufgebauten LPs durch. Drinnen stehen tausende Plattencover säuberlich aufgereiht in den Regalen und auf den Verkaufstischen. An den Wänden bunte Motive: Andy Warhols Bananencover, ein Konzertposter von den Supremes. Und natürlich Musik. Sie ist allgegenwärtig. Saxophon-Töne im Hintergrund wechseln sich ab mit Gitarren-Folk und Rock 'n' Roll-Riffs. Die Tonträgersammlung durchstöbern Jung und Alt, Hipster und Bildungsbürger, mit Bart und glatt rasiert.

 

Wir treffen den Gründer dieses besonderen Geschäfts. Helmut Faber ist 65 Jahre alt und hat Second Hand Records vor mehr als 30 Jahren eröffnet. Offiziell hat er den Laden längst an einen ehemaligen Angestellten abgegeben. Trotzdem kommt Faber fast jeden Tag in die Leuschnerstraße. Er sieht aus wie der nette Opa von nebenan. Über seiner weißen Hose trägt er einen schwarzen Pullover mit grauem Schal. Seine Brille sitzt tief auf der Nase. Bei Ankunft der Interviewerin packt er gerade neu angekommene Platten aus und berät gleichzeitig einen Kunden. Er redet langsam und überlegt lange, bevor er antwortet.


Helmut, warum hören Menschen heute noch Schallplatten?

Sinnlichkeit. Die Hüllen in die Hand nehmen. Die Bilder anschauen. Das Plopp hören, wenn die Nadel auf das Vinyl trifft. Sich zurücklehnen und dieses Grundgeräusch von einer Platte hören. Das ist wie Meditation für mich. Wie ein Ausgleich. Plötzlich wird die Welt ein bisschen besser. Mit einer Stereoanlage um 3000 Euro hast du dazu einen Bass, der in den Fußsohlen vibriert, ins Herz trägt. Höhen, die mich wegtragen. Dann brauche ich kein LSD mehr und keine Drogen, weil ich alleine fliegen kann, nur durch die Musik.

Hast du deshalb Second Hand Records aufgemacht?

Meinen Freunden Wendelin und Andreas habe ich schon als Kind Platten abgekauft. Als sie gesagt haben: „Das kann ich nicht mehr hören“, habe ich gedacht: Vielleicht kommt es wieder. Wendelin sagte zu mir: „Du hast so ein super Hemd.“ Das habe ich mir ein paar Tage vorher gekauft. So ein buntes Hippie-Hemd. „Wo hast du das denn geholt?“ Dann habe ich gesagt: „Gib mir deine Stones – Their Satanic Majesties Request und du kriegst das Hemd dafür.“ Wenn die Leute ihre Schallplatten hergegeben haben, habe ich die schon mit acht und 14 Jahren gekauft. Ich bin über den Flohmarkt gelaufen und habe mir alles geholt, was ich nicht gekannt habe. Wenn hier im Laden eine Platte dabei ist, die ich noch nie gesehen habe, will ich sie hören. Ein Stück, zwei Stücke, drei Stücke. Wenn es dann immer noch scheiße ist, kommt es weg. Wenn es mir gefällt, höre ich es dreimal an.

Wolltest du immer in einem Plattenladen arbeiten?

Ich wollte eigentlich nie im Leben arbeiten. Großgeworden bin ich in einem kleinen Ort bei Karlsruhe. Dort bin ich ganz normal zur Schule gegangen. Nicht gern, muss ich sagen. Ich war ein heftiger Schulschwänzer, bin lieber in den Wald gegangen. In Deutsch war ich nicht gut. Ich hatte einen Vierer, einmal sogar einen Fünfer. Deshalb durfte ich kein Englisch lernen. Ich habe meinen Schulkameraden die Vokabelhefte gestohlen, damit ich es lernen konnte. Damit ich die Texte von den englischen Platten verstanden habe.

Hast du die Schule trotzdem beendet?

Ich habe alles abgeschlossen und anschließend noch eine Lehre gemacht. Aber auch da habe ich eine Weile gebraucht. „Du bist ein Gammler“, hieß es. Ich wollte einfach weg: nach Frankreich, in die Niederlande. Holland war das gelobte Land, weil es gutes Marihuana gab. Bis 1972 habe ich nur gearbeitet, wenn ich Geld gebraucht habe. Irgendwann habe ich beschlossen: Ich lerne Schreiner, weil Holz so gut riecht. Ich bin also Schreiner geworden. Ein relativ guter sogar. Aber nicht so gut, dass ich mich gefreut hätte, wenn ein Werkstück fertig war. Ich habe immer meine Fehler gesehen. Das hat mir gestunken.

Wie bist du zu Second Hand Records gekommen?

Ich bin 1976 nach Stuttgart gekommen. In einem Laden habe ich als Geschäftsführer gearbeitet. Da haben mir aber die Bedingungen nicht gefallen. Ich habe aufgehört. Es gab da diesen Plattenladen in Stuttgart, den ich absolut geschätzt habe. Den Laden von Andi. Bloß, wie er es gemacht hat, fand ich unmöglich. Ich habe damals zu ihm gesagt: „Auf geht’s, Andi! Wir machen deinen Laden zusammen. Lass mich machen, wie ich will.“ Er meinte: „Nein. Wenn du es besser kannst…“ Am nächsten Tag hatte ich einen Laden und stellte mein Zeug rein. Ein halbes Jahr später ruft mich Andi an: „Es kommt keiner mehr zu mir. Es kommen alle bloß noch zu dir. Willst du nicht mein Zeug kaufen?“ Es ging enorm schnell. Ich habe alles Geld, was ich gemacht habe, wieder investiert. Nur in Platten. Wenn man so will, hat mich tatsächlich nichts anderes interessiert. Nur meine Kinder, meine Frau und die Platten.

Erinnerst du dich an Deine erste Schallplatte?

Das war eine Single. Die gab es beim Automatenaufsteller für 50 Pfennig: Ray Charles – What’d I Say. Das Gute dabei war: Sie ging auf beiden Seiten vier Minuten. Den besten Plattenspieler hatte ein Freund von mir. Wir waren fünf Kumpels. Jeder hat eine andere Platte gekauft, damit wir ja alle hören konnten. Wir hatten zusammen irgendwann über tausend Stück. Ich war auch auf vielen Konzerten meiner Lieblingskünstler. Bei fast allen. Selbst Kraftwerk und Pink Floyd habe ich schon 1970 gesehen. Wen ich nicht gesehen habe, waren The Doors. Leider. Ich habe die Karten gehabt. Das Konzert war in Holland. Da habe ich noch Straßenmusik gemacht. Sie haben mich rausgeschmissen, weil ich so schlecht gesungen habe.

Du wolltest selbst Musiker werden?

Nein! Dazu wäre ich viel zu schlecht. Nur das, was ich gut kann, mache ich auch.

Seit ein paar Jahren ist die Schallplatte beliebt wie lange nicht mehr. 2,1 Millionen Vinyl-Alben gingen zwischen Januar und Dezember 2016 über den Ladentisch. Dabei hatten viele die Platte schon abgeschrieben.

Ich habe vor über 25 Jahren ein Interview gehabt beim SWR. Die haben das Interview überschrieben mit: „Der Mann, der Vinyl liebt.“ Die Frage nach der Zukunft der Schallplatte haben sie damals schon beantwortet. Sie haben gesagt: „Die Platten werden nichts mehr taugen.“ Und ich war mir sicher: Die werden nicht untergehen. Der Journalismus hat das Vinyl totgeschrieben. Die Rundfunkstationen haben alles auf CD umgestellt. Ich habe – selbst in der Hochphase der CD – zu jedem gesagt: Behalte deine Schallplatten! Gute Freunde haben mir all‘ ihre Platten verkauft. Einer davon hat gesagt: „Wenn du sie heute Abend nicht abholst, verkaufe ich sie irgendjemand anderem.“ Ich bin hingegangen. Fünf Jahre später hat er es bereut. Heute lachen wir darüber. Er kauft alles wieder, was er schon einmal gehabt hat. Die SWR-Leute, die das Interview gemacht haben, sind neulich wiedergekommen. Einer hat gesagt: „Sie haben recht gehabt!“ Es ist eben eine sinnliche Angelegenheit.

Die CD ist das eine – mittlerweile sind Streaming-Dienste wie Spotify und Napster sowie Download-Portale und Online-Händler wie iTunes und Amazon für viele Musikhörer die wichtigste Quelle.

Wollen Leute das haben, sollen sie es so machen. Ihnen geht aber jede Sinnlichkeit verloren. Wir können es auch ganz übertreiben: Sollen sie doch zu Beate Uhse gehen und sich eine Plastikpuppe holen. Das ist das Gleiche. Allein das Design und Cover einer Schallplatte sind eine Kunst.

Musik downloaden ist billiger als Schallplatten kaufen. Habt ihr keine Angst vor der Konkurrenz?

Nein. Der Markt wird bleiben, weil er dieses Sinnliche haben möchte. Ich kriege es mit, durch die vielen jungen Menschen, die in den Laden kommen. Die gehen den entgegengesetzten Weg. Sie sagen: „Ich möchte dieses Download-Zeug nicht mehr.“

Offiziell hast du den Laden bereits übergeben. Warum arbeitest du trotzdem noch fast jeden Tag darin?

Vorhin habe ich gesagt: Ich wollte eigentlich nie im Leben arbeiten. Und wenn ich mir dann überlege, was ich gearbeitet habe! Aber ob ich jetzt zehn Stunden gearbeitet habe oder 16 oder auch mal drei, vier Tage komplett durch – das war mir egal. Es war und ist nie anstrengend.

Wie fand das deine Familie?

Wenn sie mich gebraucht haben, war ich da. Dann hat halt jemand anderes den Laden gemacht. Ich habe immer versucht, mir Zeit für die Familie und Kinder zu nehmen. Außerdem konnte ich mit denen ja auch Musik hören. Meine Tochter spielt mir heute Downloads vor und fragt: „Papa, kannst du mir das nicht auf Platte besorgen?“ Meine Töchter waren noch im Mutterleib - da habe ich ihnen schon Mozart und Beethoven vorgespielt.

Sind sie dadurch überdurchschnittlich intelligent geworden?

Meine eine Tochter weiß über Klassik inzwischen wesentlich mehr, als ich. Meine andere Tochter ist eine Rock 'n' Roll Lady. Was hat sie vor kurzem gesagt? „Mensch Papa. Ich will ja nicht, dass du stirbst. Aber wenn du stirbst, will ich deine Stereoanlage.“


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