Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident weicht im ARD-Talk mehrfach Fragen aus, lobt seinen grünen Koalitionspartner und sieht NRW überlastet durch jeden Monat 5000 neue Flüchtlinge. Und dann gibt es noch eine Protestaktion.
Mehr als 30 Jahre ist der Christdemokrat und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Hendrik Wüst schon in der Politik, er soll als Jungpolitiker mal „krawallig“ und „stockkonservativ“ gewesen sein, so stellte ihn Moderatorin Caren Miosga jedenfalls am Sonntagabend in ihrer Talkrunde dar, und auf die Frage, wo denn die frühere Wildheit geblieben sei, da antwortete Wüst lakonisch, aber eindeutig: „Ich werde jetzt bald 50, da muss ich doch nicht ständig aus der Hose hüpfen.“
Bei anderen Fragenkomplexen wich Hendrik Wüst eher aus und glitt ins Ungefähre ab. Das ging los mit Miosgas Fragerei nach der „Willkommenskultur“ von Kanzlerin Angela Merkel, die in der Sendung nochmals in Videoausschnitten von 2015 dokumentiert wurde. Da wollte die Moderatorin wissen, ob die CDU mit ihrer Forderung nach Zurückweisungen an den Grenzen nicht einen „maximalen Bruch mit der Politik Merkels“ vollziehe und ob sie deren politisches Erbe jetzt – kurz vor ihrem siebzigsten Geburtstag – nicht beerdige. Auch die Regierung Merkel habe damals auf die Flüchtlingsströme schon reagiert und Maßnahmen ergriffen, antwortete Hendrik Wüst, und natürlich habe man „am Anfang helfen“ wollen, später sei die Willkommenskultur aber „immer diskutiert“ worden in der Union.
Auf Augenhöhe mit CSU
So gut wie keine Antwort erhielt Miosga auch auf ihre Fragen nach einer möglichen Präferenz für Friedrich Merz oder Markus Söder als Kanzlerkandidat . Die Union müsse die Grundlage schaffen, eine bessere Regierung zu stellen als die jetzige, so der CDU-Ministerpräsident. Deshalb werde erst in der CDU gesprochen, danach „auf Augenhöhe“ mit der CSU. Auf Fragen nach Söder erklärte er, der sei ein starker Ministerpräsident und „einer der stärksten Unionspolitiker, die wir haben“. Das sei doch ein Glücksfall, dass man zwei so starke Bewerber habe. Eine Vorliebe für einen Kandidaten ließ sich da nicht heraushören.
Einen heiteren Moment gab es immerhin, als Miosga wissen wollte, welche Position er, Wüst, denn zwischen dem preußischen Bären Merz und dem bayerischen Löwen Söder haben solle. „Das würde mich auch interessieren“, meinte Wüst, vielleicht als „stolzes Ross“, das sich im NRW-Wappen neben dem Rhein und der lippeschen Rose finde. „Aha, Sie sind ein zahmes Nutztier“, meinte daraufhin die Moderatorin.
Schulterschluss mit Ministerin Paul
Ernster, aber auch nicht sonderlich erhellend, wurde es beim Thema Anschlag von Solingen. Schon zuvor hatte Wüst drauf hingewiesen, dass er mit seinem grünen Koalitionspartner in Düsseldorf „gut kann“. Mit den Grünen habe er gerade ein Maßnahmenpaket für mehr Sicherheit, Migrationskontrolle und bessere Prävention geschnürt und das funktioniere gut.
Mehrfach versuchte Miosga der Grünen Josefine Paul, Familien- und Integrationsministerin in NRW, dann „Fehler“ nachzuweisen im Zusammenhang mit dem Messerstecher von Solingen, der, nachdem er bei einem ersten Abschiebeversuch von der Polizei nicht angetroffen worden war, „unbehelligt“ geblieben sei. Allerdings listete Miosga dann „Fehler“ von Josefine Paul auf, die sich nicht beim Abschiebeversuch, sondern nach dem Anschlag ereignet hatten und Wüst wies sie auch darauf hin: späte Ereichbarkeit nach dem Anschlag, späte öffentliche Äußerung nach dem Anschlag, nacheilende Recherche von Pauls Ministerium beim Bundesamt für Migration über das Abschiebegebaren. „Ist Ministerin Paul ihrem Amt gewachsen?“, wollte Caren Miosga da trotzdem wissen, aber Hendrik Wüst wich auch hier zum dritten Mal einer klaren Antwort aus: Ein Untersuchungsausschuss werde die Abläufe rund um die Abschiebung anschauen, danach werde man möglicherweise Konsequenzen ziehen: „Wir arbeiten sehr konsequent an dem Thema.“
Monatlich 5000 Neuankömmlinge
Habhafter verlief die Debatte dann bei Maßnahmen gegen die irreguläre Migration, bei der Gespräche zwischen Union und Regierung erneut möglich sind. Wüst befürwortet sie, man könnte die Regierung zwar „weiterwursteln lassen“, sehe aber als größte Volkspartei in der Opposition eine Verantwortung. Der nächste Versuch eines Maßnahmenbündels müsse „sitzen“, gebe es da keine konkreten Ergebnisse, werde das „nur die Ränder“ im politischen Spektrum stärken. Das Land sieht Wüst wegen der Migration „am Rande der Überforderung“, es sei Zeit zum Handeln.
Grundschullehrerinnen berichteten ihm, dass sie in einer Klasse bis zu sechs Kinder ohne jegliche Deutschkenntnisse hätten, Bürgermeister schilderten ihm, sie wüssten nicht, wo sie Neuankömmlinge unterbringen sollten. Monat für Monat kämen 5000 neue Asylbewerber oder ukrainische Flüchtlinge nach Nordrhein-Westfalen (18 Millionen Einwohner). „Ich möchte gut umgehen mit diesen Menschen, aber es funktioniert nicht mehr.“ Aber besteht wirklich eine nationale Notlage, die strenge Grenzkontrollen rechtfertigt? Miosga zog das in Zweifel, wies auf die rückläufigen Asylbewerberzahlen in Deutschland hin.
Auch die Autorin Gilda Sahebi meinte, die Politiker und Medien erzeugten ein falsches Bild von Millionen von Menschen die „vor Deutschlands Toren“ stünden und jetzt alle hinein wollten. Diese Debatte gebe es seit den 80er Jahren, oft unter dem Titel, das Boot sei voll oder es sei fünf vor Zwölf. Schon Helmut Kohl habe die Hälfte der hier lebenden Türken wieder heim schicken wollen. Sie komme aus der Medizin, so Sahebi, und wolle da mal einen Vergleich ziehen: Es gebe da die nosokomiale Infektion – die Krankenhausinfektion – und mal angenommen, die Politiker würden jeden Tag nur über diese Infektion sprechen: „Natürlich hat dann bald 80 Prozent der Bevölkerung Angst vor einer Krankenhausinfektion.“ Die Politiker hätten leider zu einem alten Narrativ zurück gefunden: „Wir gegen die. Die Migranten überlasten uns und sind verantwortlich für Lehrermangel und Wohnraumnot.“ Solche Aussagen spalteten die Gesellschaft.
Zahlen rückläufig
Der Migrationsforscher Gerald Knaus brachte Zahlen, wonach im vergangenen Jahr eine Million Ukrainer nach Deutschland gekommen seien und 350.000 Asylanträge gestellt worden seien. In diesem Jahr werde die Zahl der Asylanträge aber nur 260.000 betragen. Jedes Land der Welt kämpfe derzeit gegen illegale Migration, Deutschland sei da gar keine Ausnahme. Die von der Union vorgeschlagene Zurückweisung an den deutschen Grenzen sei aber kein Allheilmittel, das habe man schon 2015 und 2018 vergeblich probiert und sei eigentlich nur an den EU-Außengrenzen möglich. Direkte deutsche Nachbarländer seien eh überlastet, etwa Polen oder Tschechien durch sehr viele Flüchtlinge aus der Ukraine, Österreich durch viele positiv beschiedene Asylbewerber, diese Länder würden bei der Zurücknahme sicher nicht kooperieren.
Protest im Studio
Knaus plädierte für eine Asylprüfung in sicheren Drittstaaten mit garantierten Standards – sei es die Türkei oder Ruanda, das sei moralischer, als Tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken zu lassen. „Meinetwegen“, sagte daraufhin Sahebi, aber auch das Drittstaatenmodell werde die Zahl der hier Ankommenden nicht stoppen, die Migration werde andere Wege finden. Hendrik Wüst meinte, man müsse auch an solchen Lösungen arbeiten. „Wir hatten eine doppelte Zäsur: den Anschlag von Solingen und die Wahlergebnisse in Thüringen.“
Der ARD-Talk war durch eine Protestaktion von zwei Frauen im Zuschauerraum kurz gestört worden. Sie hielten Plakate mit Bildern der durch einen Drohnenangriff getöteten kurdischen Journalistinnen Gülistan Tara und Hero Bahadin hoch und kritisierten die Ignoranz der Medien zu dem Thema, verließen aber nach einer Aufforderung von Caren Miosga rasch wieder das Studio.