Mit einer traumhaften Besetzung von Spitzenkönnern zelebriert Herbie Hancock im Alten Schloss seine Kunst, dass es einem schier den Atem raubt.

Stuttgart - Ausnahmedrummer Vinnie Colaiuta wirbelt mit filzbespannten Schlägeln auf den Toms und setzt plötzlich einen explosiven Akzent auf dem Crash-Becken. Herbie Hancock produziert unterdessen am Korg-Synthesizer seltsame Geräusche, die aus dem Maschinenraum eines Schiffs kommen könnten. Er durchblendet sie mit elektronisch erzeugten Schreien. Alles beginnt wie der Soundtrack eines Science-Fiction-Films.

 

Nun verdichtet sich der Rhythmus, und ein scharfer Groove bricht sich Bahn. James Genus – Hancock nennt ihn „Genus the Genius“ – unterlegt ihn mit tiefen warmen E-Bass-Tönen. Terrace Martin, der Mann am zweiten Keyboard (und Produzent von Rappern wie Kendrick Lamar), hängt sich sein Saxofon um und spielt einen glutheißen Chorus. Gitarrist und Vokalist Lionel Loueke, „The Mystery Man“ (Hancock), reiht unterdessen mit flinken Faustgriffen Akkorde blockweise aneinander.

Inzwischen hat sich der 77-jährige, viel jünger wirkende Hancock an den italienischen Fazioli-Flügel gesetzt und spielt ein scharf konturiertes Solo. Die Gangart des Quintetts nimmt weiter an geschmeidiger Härte zu, bis auf ein kaum sichtbares Zeichen des Bandleaders der Rhythmus wechselt, samtweich wird und fließt. Doch schon werden ihm musikalische Widerstände in den Lauf gelegt, es entstehen wilde Strudel und kleinere Gegenläufe, ohne das kraftvolle Strömen aufhalten zu können.

Das Publikum ist hingerissen

„,Ouverture‘ ist unser Opener für die verrückten Sachen, die wir noch für euch spielen“, sagt lachend der Chef im voll besetzten Innenhof des Alten Schlosses. Die erste Burganlage zum Schutz des Stutengartens ist 1000 Jahre alt, wurde also rund 500 Jahre vor der Entdeckung Amerikas erbaut. Die US-Jazzer und der Saitenkünstler aus Benin zeigen sich beeindruckt – und angetan von der sehr gut eingestellten Tonanlage. Voller Spiellust gehen sie ans Werk. Hancocks Musik wird von elektronischen Klängen umhüllt, die ihr Raum und Atmosphäre geben. Mit dieser traumhaften Besetzung von Spitzenkönnern ist sie derart intensiv, dass es einem schier den Atem raubt. Zuerst staunen die Menschen beeindruckt, dann sind sie hingerissen.

Dem Pianisten Hancock, der mit elf Jahren Mozarts 5. Klavierkonzert öffentlich spielte, schenkte Miles Davis 1968 für Aufnahmen des Albums „Miles in the Sky“ ein elektromechanisches Fender Rhodes, das legendäre E-Piano mit silbernem Deckel. Dem studierten Elektrotechniker Hancock eröffnete sich mit der jeweils aktuellen Technologie – vom Vocoder zum Moog bis hin zu Laptop und iPad – eine Dimension, die ihn jahrzehntelang an die Spitze der jüngeren Jazzgeschichte katapultiert hat – bis hinein ins Alte Schloss. Vergessen ist der problematische Duo-Auftritt mit Wayne Shorter am Neuen Schloss vor drei Jahren, als kopfschüttelnde Konzertbesucher scharenweise davonliefen. Nun herrscht einhellige Begeisterung, die Menschen bewegen sich in den Hüften, wippen mit den Fußspitzen und sind bester Laune. „So gut“, sagt ein erfahrener Jazzfan, „hab’ ich den Herbie noch nie erlebt!“

Sein Ton leuchtet kristallklar in der Sommernacht

Der greift dem Flügel in die Stahlsaiten und erzeugt spröde Geräusche, aus denen sich mit der Zeit ein tänzerisch anmutender Rhythmus herausschält. Diesen verstärkt und vervielfacht Colaiuta mit kraftvollen Schlägen. Loueke hat sich ans Gesangsmikro gestellt und singt mit rauer, gutturaler Stimme eine Melodie aus seiner westafrikanischen Heimat. Dabei begleitet er sich auf der E-Gitarre. Das Saxofon von Mr. Martin setzt den Gesang auf seine Weise fort und wird vom perlenden, jubilierenden Klavierspiel Hancocks abgelöst. Die Basslinien schaukeln wie auf einer Welle, und der Drummer treibt mit wuchtigem Punch diese fantastische, futuristisch klingende Improvisationsmusik an.

Allein Hancocks Klavierspiel zu erleben ist ein Hochgenuss. Er scheint die Rhythmen in sich aufzusaugen und sich davon zu seinen Höhenflügen beflügeln zu lassen. Da sitzt jeder Ton, nichts ist überflüssiges Beiwerk, selbstverliebte Spielerei. Er spielt sehr funktionell und mannschaftsdienlich, wie Fußballer sagen würden, und zugleich ausgesprochen fantasievoll. Sein Ton leuchtet kristallklar in der Sommernacht. Bei dem ruhigen Sehnsuchtslied „Come Running“ reißt der untergründige Rhythmus kitschige Anflüge fort wie ein Sturzbach rosarote Papierblumen. „We appreciate your appreciation“, kommentiert Hancock den tosenden Applaus – „wir schätzen eure Wertschätzung“. Und offeriert dem Festivalpublikum am Ende zwei seiner Welthits. Bei „Cantaloupe Island“ und „Chameleon“ kennt die Begeisterung keine Grenzen für einen Jazz, der selbst keine Grenzen kennt. Dieser Jazz, der lauthals und triumphierend zu rufen scheint: „Leute, ich bin so frei!“