Im Gespräch und im Konzert hat der Dirigent Hermann Max seine „Sichten auf Bach“ deutlich gemacht. Sie fußen auf musikalischer Rhetorik, Bildhaftigkeit, Wissen und viel Freiheit.

Stuttgart - Es gibt Musiker, die spielen geradeaus. „Das“, sagt der Dirigent Hermann Max, „sind die einen“, und es fehlt nicht viel, da hätte der freundliche 77-Jährige mit dem grauen Wuschelhaar doch ein bisschen die Nase gerümpft. Die anderen, das seien die „Rubatiker“, sagt er dann, und seine Augen strahlen. Rubatiker: Damit meint er jene, die weder die Erregungszustände der Musik noch ihre eigenen leugnen, die das Bewegte suchen und nach außen tragen. So wie er selbst. „Über wilde, schwere Harmonien“ sagt Max, zu Gast beim „Klangatelier“ des Musikfests im Fruchtkasten, „kann ich nicht mit einem strikten Zeitmaß hinweggehen.“

 

Im Gespräch mit dem Dramaturgen der Bachakademie, Henning Bey, kommt Hermann Max mächtig ins Reden. „Darf ich noch einen kleinen Bogen machen?“, fragt er immer wieder, und dann kommt er begeistert vom Hütchen aufs Stöckchen. Es sind hübsche Hütchen und interessante Stöckchen, deshalb bleibt das Publikum auch aufmerksam und zugewandt, als es um eine spezielle Entsprechung von Sprache und Musik geht. Mit musikalischer Rhetorik, also mit Mustern, Aufbau und Strukturen einer wirkungsvollen Klangrede, beschäftigt sich jeder Musiker, aber für Bewohner des Alte-Musik-Biotops ist sie gleichsam der Humus, in dem ihr Tun wurzelt, gedeiht und Früchte trägt. Auch Hermann Max ist ein Rhetoriker: ein Mann, der nach Sprachähnlichem in der Musik sucht, der die Vorherrschaft des Textes vor dem Klang – zumindest für die Zeit zwischen Monteverdi und der Frühromantik – verteidigt und der sich außerden dafür verkämpft, dass sich Klang nie nur als schöne Verpackung, sondern immer als integraler Bestandteil einer Komposition begreifen muss.

Hermann Max studiert intensiv die Quellen der Musik

Als er nach dem Studium von Kirchenmusik und Musikwissenschaft, außerdem aber auch von Kunstgeschichte und Archäologie, in den 70er Jahren im rheinischen Dormagen als Kirchenmusikdirektor einen eigenen Chor leitete, hatte Max noch keine Ahnung von dem, was seinerzeit historische Aufführungspraxis hieß (und sich mittlerweile vorsichtiger als „historisch informiert“ bezeichnet). Heute zählt der Dirigent mit seinen Ensembles Rheinische Kantorei und Das kleine Konzert zu jenen, deren Darbietungen – Rubato hin oder her – ein genaues Quellenstudium vorausgeht. Drei Jahre lang, sagt Max, habe er während seines Studiums jeden Abend von 22 Uhr bis Mitternacht historische Traktate gelesen, „weil es doch objektive Kriterien für Interpreten geben muss“ – was mit viel Disziplin, aber auch mit Lust zu tun hatte. Oder, um es in barockem Überschwang zu sagen: mit Wonne.

Diese hält bis heute derart an, dass ihm immer neue Erkenntnisse zuwachsen. Manchmal ist das unangenehm. „Ich habe“, sagt Max, „bei der Deutung von Musik schon viele Fehler gemacht.“ Alte Aufnahmen von sich stelle er deshalb oft ab: weil er sie einfach nicht ertrage. Es sind da aber auch so viele Details in der Musik, man müsse erst sich selbst, dann den Musikern und schließlich dem Publikum so viel klar machen. „Da kommt man“, sagt Max, „nie an ein Ende“ – vor allem wenn man wie er so gerne und so oft das Rand- und Nischenrepertoire der Klassik, Romantik und vor allem des Barock beackert. Was dabei am wichtigsten sei? „Das Bildhafte“ – also die Vorstellung, die ein Komponist vor der Niederschrift der ersten Note von seinem Stück hat. „Es gilt“, sagt der Dirigent, „die verborgenen Wirklichkeiten in der Musik zu entdecken.“ Am zweitwichtigsten sei „der Affektgehalt“, also die emotionale DNA von Intervallen und Harmonien, die jeder Musiker der Barockzeit in seinen Genen hatte. Über all das rede er viel, in Proben, aber auch vor Schulklassen, „weil dieses Wissen heute nicht mehr vorausgesetzt werden kann“.

Interessanter Bogen von Johann Sebastian Bach zu seinem Vetter Johann Ludwig

Im Konzert, das sich dem „Klangatelier“ anschließt, ist nicht alles von dem zu hören, was Hermann Max zuvor erläuterte. Das liegt zum Teil an der bekannt verzerrenden und verunklarenden Akustik der Stiftskirche, zum Teil aber auch an der Ausführung selbst. Das Konsonantische, das Max im Gespräch so hoch hielt, steht weder bei der Rheinischen Kantorei noch bei den in den Chor integrierten und aus diesem heraustretenden Solisten im Zentrum des Interesses, und manchem Einsatz geht eben jene Klarheit ab, die er zuvor eingefordert hatte.

Interessant ist dennoch der Bogen, den Max von den Kantaten BWV 116 („Du Friedefürst, Herr Jesu Christ“) und BWV 16 („Herr Gott, dich loben wir“) von Johann Sebastian Bach hin zur Kantate „Die mit Tränen säen“ von dessen Vetter Johann Ludwig Bach schlägt. Zu Beginn seines Werks macht der so genannte „Meininger Bach“ erst eine starke Verbindung zu Heinrich Schütz deutlich, und in seiner Darbietung strukturiert Max den Eingangssatz anschließend zwingend durch eine solistische Besetzung des B-Teils. In Johann Sebastians „Friedefürst“-Kantate steht das Terzett dreier kollektiv ihre Schuld bekennender Solisten im Zentrum, die bei bloßer Begleitung durch die Bassgruppe tatsächlich nackt und bloß wirken. Auch bei BWV 16 hört man sehr Feines, zum Beispiel eine Oboe da caccia als „geliebter Jesus“. Wie hatte der Dirigent zuvor doch so schön gesagt: „Bei mir geht bei Bach immer das Kopfkino los.“ Film ab!