Hermann Ohlicher stieg mit dem VFB Stuttgart 1975 ab. Als Kapitän des Clubs gelang ihm der Wiederaufstieg. Seine Tipps zur momentanen Krise.

Stuttgart: Als Mitglied des Ehrenrates verfolgt der frühere Mannschaftskapitän Hermann Ohlicher (61) den Weg des VfB Stuttgart genau. Es gibt einiges, was in seinen Augen besser laufen könnte.

 

Herr Ohlicher, erinnern Sie sich noch an den 19. April 1975?

Diesen Tag vergesse ich nicht. Wir spielten gegen Werder Bremen. Das Duell wurde so hochstilisiert - entweder wir gewinnen oder wir steigen ab.

Sie haben nicht gewonnen und sind später dann auch in der Tat abgestiegen.

Ich weiß. Obwohl ich ein Tor geschossen habe, reichte es nur zu einem 2:2. Im Nachhinein verstehe ich trotzdem nicht, warum damals eine solche Weltuntergangsstimmung herrschte. Es war erst der 28. Spieltag - und es wäre noch genug Zeit gewesen, um die Klasse zu halten.

Am Samstag haben wir den 9.April 2011. Der 29. Spieltag steht an - und wieder bestreitet der VfB eine Art Abstiegsendspiel. Die Parallelen zu 1975 liegen auf der Hand.

Der Gegner ist jedoch ein anderer - nämlich Kaiserslautern.

Sehen Sie weitere Unterschiede?

Wir sind damals in Panik verfallen. Das war verheerend. Deshalb habe ich im Januar mit unserem Trainer Bruno Labbadia gesprochen. Ich sagte ihm, dass Rückschläge kommen werden. Aber wichtig ist es, den Weitblick zu bewahren. Denn abgerechnet wird nicht nach dem 28. oder 29. Spieltag, wie wir 1975 glaubten, sondern am Ende. Man kann auch aus den letzten drei Spielen neun Punkte holen und sich retten.

In der vergangenen Saison war der VfB die beste Elf der Rückrunde. Warum ist es nicht so weitergegangen?

Weil es im Fußball keine Logik gibt. Das zeigt schon der Blick auf die aktuelle Tabelle. Nichts gegen Hannover, Mainz, Nürnberg oder Freiburg - aber das sind Mannschaften, die man von ihrem Potenzial her weiter hinten ansiedeln müsste.

In den unteren Regionen rangiert der VfB. Wo liegen die Gründe dafür?

Solche Phänomene gibt es im Sport immer wieder. Darüber haben sich schon viele schlaue Leute den Kopf zerbrochen - ohne zu einem Ergebnis zu kommen.

Versuchen Sie es trotzdem?

Entscheidend waren für mich die Heimspiele gegen Frankfurt, Köln, Freiburg und Nürnberg, die allesamt verloren wurden. Dadurch sind wir ins Hintertreffen geraten. Hätten wir aus diesen vier Spielen nur sechs Punkte geholt, wären wir heute in einer ganz anderen Position und müssten uns keine Sorgen mehr machen.

"Wir sind nun mal keine typische Abstiegsmannschaft."

Warum hat der VfB nicht wenigstens diese sechs Punkte eingefahren?

Dafür gibt es vermutlich 20 Gründe. Offensichtlich ist jedoch, dass die Mannschaft ihre Fähigkeiten nicht abrufen kann. Nehmen wir nur das Spiel kürzlich gegen Wolfsburg. Zuvor hatten wir dreimal nacheinander gewonnen - und dennoch wirkten die Spieler so, als hätten sie Blei an den Füßen. Sie haben allem Anschein nach Probleme mit dem Druck. Wir sind nun mal keine typische Abstiegsmannschaft. Das spielt sich alles im Kopf ab. Da ist eine Blockade.

Mit welchen Folgen?

Ich vermisse, dass wir einen Gegner auch mal beherrschen und zurückdrängen können. Obwohl es nach der Verpflichtung von Tamas Hajnal besser geworden ist, tun wir uns schwer damit, das Spiel zu gestalten, zu kontrollieren und zu dominieren.

Dafür ist das Glück zurückgekehrt.

Das haben wir auch dringend gebraucht. Wir haben gerade eine starke Phase mit elf Punkten aus den letzten fünf Spielen. Dennoch stehen wir noch unten drin. Das bedeutet, dass wir den positiven Trend jetzt unbedingt fortsetzen müssen.

Sie sind aber zuversichtlich, dass der Aufschwung in den nächsten Wochen anhält?

Davon bin ich überzeugt. Die Mannschaft engagiert sich. Ein noch besseres Gefühl hätte ich allerdings, wenn wir mehr Qualität in unserem Spiel hätten. Die Sicherheit fehlt völlig. So werden die nächsten Wochen zu einem reinen Überlebenskampf, der bis zur letzten Partie bei den Bayern dauern kann.

Ist das auch so, weil es einen erheblichen Mangel an Führungsspielern gibt?

Solche Spieler bilden sich meist in erfolgreichen Zeiten heraus. In einer Krise ist das viel schwieriger. Ich bin mir sicher, dass Christian Träsch und Serdar Tasci einmal das Zeug haben, um die Mannschaft zu führen. Sie bringen alle Anlagen mit. Aber sie sind jung. Deshalb haben sie Schwierigkeiten, mit dieser Situation umzugehen. Da fehlt die Erfahrung.

Die Jens Lehmann hatte?

Sein Abgang wurde unterschätzt. Er strahlte Ruhe aus und hatte die Persönlichkeit, um von hinten heraus alles zu organisieren. Diese Rolle ist nicht mehr besetzt.

Wenn der Klassenverbleib geschafft wird - bedarf es dann eines Schnitts in der Mannschaft, um die nächste Saison optimistischer in Angriff nehmen zu können?

So etwas ist immer leicht gesagt. Erstens gibt es ja noch laufende Verträge, die eingehalten werden müssen.

Und zweitens?

Schauen wir nur mal nach Hannover. Der Club stand zu Saisonbeginn am Abgrund und plötzlich ist es in die andere Richtung gegangen - mit einer Mannschaft, die schon totgesagt war, und mit einem scheinbar bereits gescheiterten Trainer. 

"Der VfB sollte wieder mehr auf seine Jugend setzen."

Dann muss der VfB einfach alles so machen wie Hannover und nichts umstellen?

Das wollte ich damit nicht sagen. Ich plädiere vielmehr für eine Kurskorrektur und eine Änderung der Philosophie. Das heißt, der VfB sollte wieder mehr auf seine Jugend setzen - und daneben vor allem die Talente im süddeutschen Raum im Auge haben. Dieses Einzugsgebiet wurde zuletzt etwas vernachlässigt. Deshalb sind viele Nachwuchsspieler zu anderen Clubs gewechselt - wie die Bender-Zwillinge nach Dortmund und Leverkusen. So sieht es übrigens auch unser Manager Fredi Bobic.

Veränderungen stehen auch in der Vereinsführung bevor, da die Amtsperiode des Präsidenten Erwin Staudt in diesem Jahr endet. Sind Sie als Mitglied des Ehrenrats in die Pläne und Überlegungen eingebunden?

Mit dem operativen Geschäft haben wir nichts zu tun. Der Vorstand wird vom Aufsichtsrat vorgeschlagen. Das ist geregelt.

Wie verfolgen Sie die Debatten?

Wenn man die letzten Jahre betrachtet, wurde der Verein gut geführt, steht wirtschaftlich gut da und ist organisatorisch und strukturell top. Dass es mal schlechtere Zeiten gibt, ist normal. Ich habe zwar Verständnis dafür, dass sich jetzt eine Opposition formiert, aber Querschüsse sind in dieser Lage unangebracht. Die Mannschaft braucht die totale Unterstützung. Wer wünscht sich denn, dass der VfB absteigt? Es zählt wirklich nur der Klassenerhalt. Alles andere entscheidet sich dann danach.

Eine Meinung dazu, wie es weitergehen soll, werden Sie aber schon jetzt haben.

Für mich stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoll ist, mehr Fußballkompetenz in den Gremien zu installieren - als Ergänzung zu dem bisherigen Personal. Dann wäre der Vorstand auch aus der Schusslinie und nicht mehr so angreifbar, wenn es sportlich nicht wunschgemäß läuft.

Haben Sie einen konkreten Vorschlag?

Es gibt viele Exspieler, denen der VfB am Herzen liegt. Auch eine beratende Tätigkeit wäre denkbar - wie Zinedine Zidane bei Real Madrid. Da würde keinem beim VfB ein Zacken aus der Krone brechen.

Würde Sie selbst denn eine solche Aufgabe reizen - oder vielleicht sogar das Präsidentenamt?

Ich fühle mich momentan voll ausgelastet.