Stuttgart - Dilek Gürsoy wurde 1976 in Neuss geboren. Ihre Eltern kamen als Gastarbeiter aus der Türkei. Sie studiert Medizin, wird Herzchirurgin. Es ist ein ungewöhnlicher Weg mit vielen Hürden. Als Frau stieß sie immer wieder an die „Gläserne Decke“, wie sie sagt. 2019 wird sie vom German Medical Club als Medizinerin des Jahres ausgezeichnet. Jetzt erschien ihr Buch „Ich stehe hier, weil ich gut bin“ (Eden Books).
Frau Gürsoy, was ist der wichtigste Moment, wenn Sie am Herzen operieren?
Den einen Moment gibt es nicht. Jede OP gehe ich mit Bedacht an. Das Wichtigste ist, dass sie gut verläuft, der Patient auf die Intensivstation kommt, am nächsten Tag aufwacht und die Klinik bald wieder verlassen kann. Ich habe schon viele OPs gesehen, von denen man dachte, das seien einfache Nummern. Deshalb bin ich sehr vorsichtig. Vermutlich hat mich dieses vorsichtige Dasein so weit gebracht.
Was geht einem eigentlich durch den Kopf, wenn man einem Menschen das Herz aus dem Brustkorb herausschneidet, um ein Kunstherz einzusetzen?
Während der OP gar nichts, es geht nur darum, die Sache unblutig und sicher zu Ende zu bringen. Ich kenne davor schon alle Befunde und den Patienten genau. Es ist natürlich etwas Besonderes, ein ganzes Organ zu entnehmen. Wenn ich da einen Schnitt gemacht habe, gibt es kein zurück. Das ist ein Moment der Ehrfurcht und der Demut.
Als Kind mochten Sie es, Ihre Mutter in Krankenhäuser zu begleiten.
Ich fand diese Sauberkeit schön. Die Krankenschwestern und Ärzte hatten für mich in ihrer weißen Kleidung etwas Erhabenes. Und diese Menschen halfen meiner Mutter, sie waren sehr einfühlsam. Ich habe Ärzte und Schwestern im positiven Sinne als Gutmenschen erlebt. Das hat mich geprägt. Diese weißen Kittel darf man nicht unterschätzen. Heute trägt man auch mal Blau, Grün oder Rosa. Aber diese Reinheit hat mich so beeinflusst, dass ich immer noch gerne eine weiße Hose, weiße Schuhe und einen weißen Kittel trage.
Warum war Ihre Mutter so oft im Krankenhaus?
Sie hatte eine unbewusste Depression, als mein zweiter Bruder verstorben ist. Das hatte damals niemand erkannt. Man muss bedenken, dass meine Mutter fünf Kinder geboren hatte, zwei verstarben im Kindesalter und dass ihr Mann früh starb und sie fortan allein für uns aufkommen musste. Das hinterlässt gesundheitliche Spuren.
Sie wussten früh, dass Sie Ärztin werden wollten. Wann kam der Wunsch auf, Herzchirurgin werden zu wollen?
In der Düsseldorfer Universität gab es zwei Kuppeln, von denen man wie bei „Emergency Room“ hinunterschauen konnte. Auf der einen Seite war die eher grobe Bauch-Operation, auf der anderen die unblutige, ruhige, für mich ästhetische Herzchirurgie. Die hat mir gefallen.
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Sie waren zehn Jahre alt, als Ihr Vater an Herzversagen starb. Ihre Mutter war fortan alleinerziehend. Schon vorher hat sie nicht das traditionelle Leben als Hausfrau gewählt, sondern sich nach der Ankunft in Deutschland Arbeit gesucht. Was hat sich Ihre türkische Familie von Deutschland erhofft?
Dasselbe wie alle anderen auch: Geld verdienen und wieder zurück. Das war bei meinen Eltern auch nicht anders. Meiner Mutter war relativ früh klar, dass sie Deutschland nicht als Durchgangsstation sieht. Hier hat sie zum ersten Mal ihre Freiheit gefunden. Sie hatte Arbeit, verdiente selber Geld und sah, dass es ihr hier gut geht und es hier auch ihren Kindern gut gehen wird.
Ihre Mutter stand 47 Jahre am Fließband und produzierte Vergaser und andere Autoteile. Sie verdiente damals mehr als Ihr Vater.
Das stimmt. Aber mein Vater war kein Macho, dem machte das nichts aus. Es war schlichtweg kein Thema, wer mehr verdient.
Es war doch aber ungewöhnlich, dass Ihre Mutter Vollzeit arbeiten ging.
Meine Mutter hat immer gearbeitet. Und es war härter, auf dem Feld zu arbeiten als in der Fabrik am Fließband. Kaum konnte sie laufen, da musste sie schon arbeiten. So war das in den Dörfern. Mit 17 Jahren wurde sie verheiratet und dann ging die Arbeit mit dem Haushalt in der Schwiegerfamilie weiter. Die Fabrikarbeit war tatsächlich eine Befreiung für meine Mutter. Und irgendwie ging es immer weiter, egal, was passierte. Diese Dankbarkeit, dass uns dieses Land das ermöglicht hat, mit der leben wir immer. Meine Mutter sagt stets: „Kind, es könnte noch schlimmer sein.“ Wir haben heute doch viele Luxusprobleme. Gastarbeiterkinder wissen es sehr zu schätzen, was wir haben.
Sie wuchsen in Neuss bei Düsseldorf in dem Stadtteil Weckhoven auf. Was war das für eine Gegend?
Wir sind als kleine Kinder siebenmal umgezogen. Wir sind schließlich in Weckhoven untergekommen, was damals ein Ghetto war, wo türkischstämmige Familien zusammenkamen. Es gab keinen richtigen Spielplatz, aber das war okay für uns Kinder. Wir haben uns irgendwie draußen beschäftigt. Meine Mutter fand es schlimm dort, mich aber hat es nicht negativ geprägt.
War Geld bei Ihnen zu Hause ein zentrales Thema?
Wir haben das als Kinder nicht unbedingt gemerkt – außer dass die Familie immer wieder Geld nach Hause in die Türkei schicken musste. So nach dem Motto „Ihr findet das Geld ja auf der Straße“. Zum Teil ging es der Verwandtschaft in der Türkei sogar besser als uns. Ich habe aber nie vermittelt bekommen, dass es uns an irgendwas mangelt. Es war klar, dass wir uns nicht alles leisten konnten. Da war man als Kind mal traurig, wenn man die eine Jacke nicht bekam.
Sie bekamen erst keine Empfehlung fürs Gymnasium, begannen danach eine Ausbildung zur Medizinisch-technischen Assistentin, um die Zeit bis zum Studium zu überbrücken. Würden Sie sagen, dass alle in Deutschland, egal welcher Herkunft, die gleichen Chancen haben?
Die Chancen sind da. Hier in Deutschland geht es vielen sehr gut. Leider müssen Frauen und auch Menschen mit Migrationshintergrund sich immer noch viel mehr beweisen als andere, die nicht in dieses Raster fallen. Ich hatte Unterstützung von Menschen, die früh etwas in mir gesehen haben. Aber ohne harte Arbeit hilft auch das nicht. Wir sind da, wo wir sind, weil wir etwas geleistet haben, Durchhaltevermögen besitzen und immer unserem Ziel vor Augen folgen.
Wie haben Sie Ihr Studium finanziert?
Durch meine Mutter. Ab und an habe ich im Lager in den Semesterferien gearbeitet. Ich hatte das Glück, dass ich noch bei meiner Mutter wohnen durfte. So gab es keine Extrakosten. Meine Semestergebühren und meine Bücher hat meine Mutter bezahlt. Was meine Mutter geleistet hat, ist unglaublich. Meine Mutter ist mein großes Vorbild.
Hatten Sie auf Ihrem Weg Hindernisse aufgrund Ihrer Herkunft oder Ihres Geschlechts?
Eindeutig, weil ich eine Frau bin. Die meisten Ausbilder haben Migrationshintergrund. Ich glaube, dass Männer immer noch nicht klarkommen mit selbstbewussten Frauen, die sagen, was sie können. Aber auch, was sie nicht können. Ich komme doch ganz sympathisch um die Ecke – und nicht wie eine Furie. Ich habe mir ein Ziel gesetzt und kein männliches Ego kann mich davon abhalten.
Was ist Ihr Ziel?
Mein Traum ist es, eine Abteilung zu leiten. Und für chronisch herzkranke Patienten ein Kompetenzzentrum zu eröffnen. Diese Patienten brauchen etwas mehr Zuneigung. Es ist nicht nur mit einer Operation getan.
Es gibt doch viele Frauen in der Medizin. Aber ab einer gewissen Karrierestufe sind dann die Männer unter sich?
Ja, das ist mir schon als Studentin aufgefallen. Da gab es zwei Topchirurginnen, die um die 40 gesagt haben: „Das mache ich nicht mehr mit.“ Ich habe das damals nicht verstanden. Dann hört man, die eine ist in die Allgemeinmedizin, die andere hat eine Familie gegründet. Erst mit Ende dreißig habe ich gemerkt, was los ist. Man hat in diesem Alter die Kriterien für die Herren schon erfüllt: Man hat gut zugearbeitet, ihnen etwas weggearbeitet, doch dummerweise ist man besser geworden. Und dann werden Frauen zu einem Problem.