Nach den Wechseljahren steigt das Risiko für einen Infarkt bei Frauen rascher an als bei Männern. Foto: Christin Klose/dpa-tmn
Die Sterberate bei Infarkten geht zurück, doch die Anzeichen werden zu spät erkannt, warnt die Herzstiftung. Das trifft besonders auf Frauen zu – wie auf Andrea Marliani.
Mitten in der Nacht ist Andrea Marliani aufgewacht: Nassgeschwitzt und mit einem Gefühl, als würde ihr Oberkörper in eine zu kleine Jeansjacke gesteckt und von hinten umklammert werden. „Vielleicht eine Panikattacke aufgrund von Stress“, dachte die Zahnärztin, als sie sich Minuten später zur Ruhe zwang. Sie atmet tief durch, schluckt eine Aspirin und legt sich wieder hin. Bald, so ihre Hoffnung, würde es ihr besser gehen. Der Urlaub war gebucht. Eine Reise durch Kanada. Darauf hat sich die ganze Familie schon seit einem Jahr gefreut.
Andrea Marliani ist geflogen – doch viel gereist ist sie nicht: Kurz nach der Ankunft in Vancouver schlug ihr Herz in der Nacht Kapriolen „als würde es an einer Fehlzündung leiden“. Neben dem Hotel in Vancouver befand sich die Notaufnahme des St. Pauls Hospitals. Dort stellte sich die 56-Jährige vor – und wurde sofort stationär aufgenommen: Laut Befund war die vermeintliche Panikattacke in der Heimat ein erster Herzinfarkt gewesen, ein zweiter hat sie nun in der Nacht ereilt. Sie habe großes Glück gehabt, die Attacken zu überleben, klärte der kanadische Arzt die deutsche Urlauberin auf.
Am Herzinfarkt sind 2023 knapp 44.000 Bundesbürger gestorben
Nach Angaben aus dem Deutschen Herzbericht, der aktuell von der Deutschen Herzstiftung sowie den kardiologischen und herzchirurgischen Fachgesellschaften nun vorgestellt worden ist, ist der akute Herzinfarkt mit knapp 44 000 Sterbefällen die vierthäufigste Todesursache der Bundesbürger.
Die Herzpatientin Andrea Marliani engagiert sich in ihrer Freizeit als Ehrenamtliche bei der Deutschen Herzstiftung. Foto: Andrea Marliani
Im Vergleich zum Vorjahr sind diese Zahlen erfreulicherweise gesunken, sagt Heribert Schunkert, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Herzstiftung. Allerdings bleibt trotz niedrigerer Sterberaten die Häufigkeit der Infarkte weiter hoch: So zählen die Koronare Herzkrankheit – die Grunderkrankung des Herzinfarkts – und der tatsächliche Infarkt selbst zu den häufigsten Gründen, weshalb ein Mensch im Krankenhaus behandelt werden muss.
Auch Diabetes und Rauchen erhöhen das Risiko für Herzinfarkte
Allein im Jahr 2023 gab es deswegen 538 657 Krankenhausaufnahmen, im Jahr 2022 waren es mit 538 277 etwas weniger. „Ein Blick ins umliegende Ausland zeigt, dass wir uns in Deutschland noch deutlich verbessern können und müssen“, sagt Schunkert, der die Klinik für Herz- und Kreislauferkrankungen am TUM Klinikum Deutsches Herzzentrum in München leitet.
Es gilt, die Krankheitslast zu verringern. Dazu müssen allerdings die Ursachen stärker in den Fokus genommen werden, fordern die Fachgesellschaften – und meinen damit etwa hohe Blutfettwerte. Aber auch ein unbehandelter Bluthochdruck sowie Diabetes, Adipositas und das Rauchen erhöhen das Erkrankungsrisiko.
Gefahren für Herzinfarkt nicht ernst genommen
Bei Andrea Marliani war es eine erblich bedingte Fettstoffwechselstörung und der Stress, die das Risiko für einen Herzinfarkt stark erhöhen können: „Aber die Erkrankung hat in meinem direkten familiären Umfeld bei keinem der Betroffenen zu Herzproblemen geführt.“ Die Zahnärztin selbst hatte diesbezüglich auch lange keine Beschwerden. Sie ist schlank, ernährt sich seit jeher gesund, ist in Bewegung und hat weder Bluthochdruck noch Diabetes. „Ich habe auch in den Augen der Ärzte nicht in das Schema einer Risikopatientin gepasst.“
Frühzeitige Diagnose und Behandlung sind die größten Hürden bei Herzerkrankungen, bestätigt auch der Kardiologe Thomas Nordt, der im Klinikum Stuttgart die Klinik für Herz- und Gefäßerkrankungen leitet: „Viele Menschen unterschätzen das Risiko für Herzerkrankungen.“ Sie glauben, es seien Erkrankungen, für die es ausreichend Behandlungsmöglichkeiten gibt.
Herz-Kontrollen für alle Menschen ab 35 Jahren
Es braucht daher einen Bewusstseinswandel – sowohl bei den Patienten als auch bei den Ärzten: Aufklärungskampagnen aus anderen Bundesländern wie die eingeführte alljährliche „Herzwoche“ in Sachsen-Anhalt haben gezeigt, wie sich regional die Sterblichkeit bei Herzinfarkten verringern lässt. „Wichtig wäre es zudem, Menschen mit einem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen mittels frühzeitiger Gesundheits-Check-Ups ab 35 Jahren beim Hausarzt zu identifizieren“, sagt Nordt, der dem wissenschaftlichen Beirat der Herzstiftung angehört. „Wartet man, bis Symptome auftauchen, ist die Krankheit oft zu weit fortgeschritten, um schwerere Folgen zu verhindern.“
Der Kardiologe Thomas Nordt leitet im Klinikum Stuttgart die Klinik für Herz- und Gefäßerkrankungen. Foto: Klinikum Stuttgart
Das gilt insbesondere für Frauen: Statistisch gesehen zeigen sich Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen rund zehn Jahre später als bei Männern. Dafür verantwortlich sind unter anderem ein schützender Effekt der weiblichen Geschlechtshormone. Doch nach den Wechseljahren steigt das Risiko für einen Infarkt bei Frauen rascher an als bei Männern. „Oft unterscheiden sich die Symptome gegenüber denen der Männer und werden nicht immer richtig gedeutet“, sagt Nordt. So sterben hierzulande pro Jahr mehr als 20 000 Frauen an einem Herzinfarkt.
Nicht immer ist bei Infarkten eine Operation nötig
Dass Andrea Marliani den Infarkt so gut überstanden hat, verdankt sie dem schnellen Eingreifen der kanadischen Ärzte. Auch in Deutschland haben sich die Methoden der Infarktbehandlung weiterentwickelt: „Um die Durchblutung des durch den Infarkt geschädigten Herzgewebes zu verbessern oder wieder herzustellen, werden die verengten Herzkranzgefäße im Katheterlabor mittels eines Ballons geöffnet und mittels eines Metallgeflechts – Stent genannt – offengehalten“, sagt Nordt.
In Marlianis Fall hätte diese Behandlung allerdings nicht ausgereicht: Ein Bypass musste gelegt werden. „Dafür nach Deutschland zurückzufliegen kam nicht in Frage“, sagt Marliani. Zu groß war das Risiko, im Flugzeug einen weiteren Infarkt zu erleiden. „Dann sind Sie tot“, sagte der kanadische Oberarzt. „Wenn es hingegen hier im Krankenhaus zu Komplikationen kommt, schieben wir Sie wieder an.“
Eine Reha hilft Herzpatienten nicht nur körperlich
Der Bypass wirkt wie eine Umgehungsstraße, die verengte oder verschlossene Stellen in einem Herzkranzgefäß überbrückt und so den Blutfluss wiederherstellt, sagt Thomas Nordt. Weshalb diese Methode auch hierzulande als vorbeugende Maßnahme für Menschen mit schwerer KHK zum Einsatz kommen kann: Im Jahr 2023 profitierten 39,6 Prozent der Patienten über 70 Jahre von einer Bypass-OP, heißt es im Herzbericht.
Sechs Jahre sind seit dem Herzinfarkt bei Andrea Marliani vergangen. Es gab einige Auf und Abs, sagt die heute 62-Jährige. Geholfen hat ihr dabei die Reha und auch die psychokardiologische Unterstützung, die sie dabei erhalten hat. Inzwischen arbeitet Marliani weiter als Zahnärztin, allerdings in Teilzeit – und in ihrer Freizeit als Ehrenamtliche bei der Deutschen Herzstiftung. Dort bestärkt sie Frauen, mehr auf sich und ihre Gesundheit zu achten. Das lange Hinauszögern bei Herzbeschwerden sei lebensgefährlich. „Das habe ich selbst auf die harte Tour lernen müssen.“
Was gegen die Todesursache Nummer eins zu tun ist
Herzgefäße Von einer koronaren Herzerkrankung spricht man, wenn es in den Herzkranzgefäßen (Koronararterien) zu Ablagerungen aus Kalk, entzündlichen Zellen, Bindegewebe und Cholesterin kommt – und sich die Gefäße verengen. Ursache sind genetische Faktoren, aber vor allem durch Rauchen, Fettstoffwechselstörungen, Diabetes, Adipositas und Bluthochdruck.
Herzbericht Der Deutsche Herzbericht wird von der Deutschen Herzstiftung zusammen mit den wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften für Kardiologie (DGK), für Thorax-, Herz- und Gefäßchirurgie (DGTHG), für Kinderkardiologie und Angeborene Herzfehler (DGPK) und für Prävention und Rehabilitation von herz-Kreislauferkrankungen (DGPR) alljährlich herausgegeben: www.herzstiftung.de/herzbericht
Ratgeber Weitere Informationen möglichen Herzerkrankungen, Therapien und Maßnahmen zur Prävention gibt es bei der Deutschen Herzstiftung. Ratgeber und Infobroschüren können dort kostenfrei erworben werden: www.herzstiftung.de