Der Künstler Hicham Berrada simuliert in Sindelfingen chemische und physikalische Prozesse. Mit höchst ästhetischen Ergebnissen.
Schon beim Betreten der abgedunkelten Ausstellung in der Galerie der Stadt Sindelfingen riecht es erdig. Was wächst denn da? Es sind Farne, die in einem Terrarium mit ausgeklügeltem Lüftungssystem und Sprinkleranlage gedeihen, ferner knollenartige Gewächse sowie eine mineralische Struktur. Tatsächlich handelt es sich um Skulpturen aus dem 3D-Drucker, und sie sprießen nicht, sondern zersetzen sich im Gegenteil.
In dieser eigens für die Galerie geschaffenen „Chambre Climatique“ simuliert der marokkanisch-französische Künstler Hicham Berrada, Jahrgang 1986, Evolution. Zugleich praktiziert er Nachhaltigkeit, denn der genutzte biologische PLA-Kunststoff ist kompostierbar. Zumindest, wenn man Farne und Myzelien nahe der PLA-Objekte in Symbiose wirken lässt: Dann verwandeln die Pilze das PLA in organische Masse. PLA im Übrigen steht für Polylactic Acid.
Premiere in Sindelfingen
In seinen prozesshaften Arbeiten nützt Hicham Berrada natürliche Gesetzmäßigkeiten und Materialien, die er wie ein Wissenschaftler erforscht und beeinflusst. Was entsteht, oszilliert rätselhaft zwischen Natur, Kunst und Digitalem. Seine Arbeiten waren schon im Louvre, im Centre Pompidou, im ZKM und bei der Taipeh Biennale zu sehen. Die Galerie der Stadt Sindelfingen zeigt nun seine erste institutionelle Einzelausstellung in Deutschland.
Künstlerische Eingriffe in die Natur nimmt er auch in Videoinstallationen vor. „Les Oiseaux“ (Vögel) und „Celeste“ (Himmelblau) sind 2014 bei einem Stipendiaten-Aufenthalt in der Villa Medici entstanden und rufen Erinnerungen an klassische Landschaftsbilder wach. Der Piazzale vor der Villa ist ein oft dargestelltes Motiv. Berrada zeigt ihn bei Nacht und richtet seinen Fokus auf einen 20-Kilowatt-Lichtstrahl, den er dort installiert hat. Von der Lichtsäule angelockt, umschwirren ihn Möwen wie künstlerische Akteure in einem poetischen Nachtstück.
Barocke Gemälde und den traditionellen Blick aus dem Fenster evoziert „Celeste“. Blaue Rauchschwaden quellen dem Betrachter ähnlich barocken Wolkengestaltungen entgegen. Teils bestimmt der Künstler Dichte, Blauton und die Ausbreitung des Rauchs selbst, zum Teil sind sie vom Wind abhängig. In anderen Exponaten löst er Mutterplatinen und Leiterplatten malerisch in elektrolytischen Bädern auf.
Performance zur Vernissage
Verfolgen, wie Berradas Welten entstehen, kann man in der 360-Grad-Videoinstallation „Présage“ im Oktogon: Er gießt mineralische Substanzen in die Lösung, und es bilden sich Unterwasser-Landschaften, die an Korallenriffe und Tropfsteine erinnern. Bei der Vernissage an diesem Samstag um 18 Uhr wird Berrada in einer Performance vom Soundkünstler Laurent Durupt begleitet und mit Video gefilmt ein Aquarium mit seinen Ingredienzien füllen und so fantastische Gebilde zaubern.
Mit ihrer Haptik besticht die „Hygre“-Serie im Obergeschoss des Oktogons. Für die 3D-Wandskulpturen hat Berrada sich von der Wachsgießerei und digital bearbeiteten Pflanzen und Steinformen inspirieren lassen und gestaltete sie symmetrisch. Was entsteht, erinnert an außerirdische Wesen, üppigen Barockschmuck und Rorschach-Bilder und ist zugleich eine würdige Hommage an Max Ernsts surrealistische Zeichnungen „Histoire Naturell“ von 1925.
Die Werke sind bis Februar zu sehen.