Die Ulmer SPD-Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis hat das Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos besucht. Im Interview beschreibt sie, was sie gesehen hat – und warnt vor der Gefahr eines neuen Corona-Hotspots.

Berlin - Die Ulmer Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis hat in der vergangenen Woche die Lage der Flüchtlinge auf Lesbos selbst in Augenschein genommen. Sie berichtet im Interview mit unserer Zeitung über prekäre Verhältnisse und die große Gefahr eines neuen Corona-Hotspots.

 

Frau Mattheis, Sie haben sich vor Ort ein Bild von den Lebensumständen der Flüchtlinge in Moria gemacht. Wie haben Sie die Reise organisiert?

Ich habe bei meiner SPD-Fraktion ganz offiziell einen Reiseantrag gestellt,weil ich in der Fraktion für das Thema Flüchtlinge zuständig bin und als Gesundheitspolitikerin durch das Corona-Thema inhaltlich betroffen bin. Das Programm habe ich dann auf eigene Faust zusammengestellt.

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Sie konnten sich dann in Moria frei bewegen?

Ja. Ich bin am Dienstag der vergangenen Woche geflogen, habe mich noch am Abend in Athen mit dem ehemaligen Gesundheitsminister Andreas Xanthos und zwei Abgeordnetenkollegen getroffen. Am nächsten Tag bin ich von Athen nach Lesbos geflogen. Vom Flughafen aus bin ich dann direkt mit dem Taxi in das neue Lager für die Flüchtlinge gefahren.

Wie ist ihr Eindruck von der nach dem Brand im alten Lager errichteten neuen Zeltstadt?

Ich habe vor den Versorgungszelten des UNHCR Menschentrauben gesehen. Die Stimmung war angespannt, ich habe auch latent aggressive Situationen erlebt. Da wird gefeilscht und gehandelt um jede Flasche Wasser, und der Stärkere setzt sich im Zweifel durch. Die Zelte, in denen die Flüchtlinge leben, sind ohne Boden und stehen eng beieinander. Ich habe ein Riesenzelt gesehen, wo mehrere hundert junge Männer in Dreier-Stockbetten untergebracht sind, auch dort standen die Betten eng beieinander. Das ganze neue Lager ist in einer Bodensenke zwischen zwei Hügeln gebaut. Es ist komplett dem Meer und den Winden ausgesetzt. Wenn es nass wird, verwandelt sich der Boden auch in den Zelten sofort in Schlamm. Was auffällig ist: Im neuen Lager gibt es eine massive Polizeipräsenz. Die Griechen wollen sich als Ordnungsmacht zeigen. Mein Eindruck war, dass die Menschen im Lager sehr verzweifelt sind. Sie leben da in einer absoluten Stresssituation. Man fühlt die aufgestaute Aggressivität.

Werden im Lager eigentlich Masken getragen?

Die einen tragen sie, die anderen gar nicht. Das Abstandsgebot wird nichteingehalten. Auch innerhalb der Zelte nicht. Die kleineren Zelte sind Familien vorbehalten - drei bis fünf Familien pro Zelt, wahllos zusammengewürfelt. Ich habe mir auch die Isolierstation von außen angeschaut. Die Isolierung der 246 Menschen, die positiv getestet wurden, ist kaum stringent. Dass auf diese Weise die Ausbreitung des Virus gestoppt werden kann, ist illusorisch. Zumal tausende noch auf den Straßen sind. Ich schätze die Gefahr als ausgesprochen groß ein, dass sich dieses neue Lager zu einem Corona-Hotspot entwickelt. Mitarbeiter des UNHCR sagten mir, sie bereiteten Corona-Tests vor. Allerdings konnten sie mit nicht sagen, nach welchem Prinzip die Testungen durchgeführt werden sollten, auch nicht wann und in welchen Zeitabständen.

Wie viele Menschen halten sich in der neuen Zeltstadt überhaupt auf?

Ungefähr 8000. Von den 20 000 Menschen, die das abgebrannte Zeltlager verlassen mussten, hat die griechische Regierung ja sofort 7000 aufs Festland geholt. Etliche tausend vagabundieren noch auf der Straße und in Olivenhainen. Das habe ich selbst gesehen. In dieser Woche sollen nochmals 700 Menschen aufs Festland geholt werden. In der kommenden Woche weitere 2300. Einige hundert, vor allem Frauen und Kinder, leben auch noch immer auf dem Gelände des alten Lagers.

Welche Forderungen leiten Sie aus dem ab, was Sie gesehen haben?

Entrüstungsbekundungen reichen einfach nicht mehr. Die Situation auf Lesbos, anderen griechischen Inseln und auch in Flüchtlingscamps auf dem Festland ist äußert prekär. Ich sehe keine Chance, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer seine Haltung überdenkt und menschlicher handelt. Deshalb muss unser Ansatz ein pragmatischer sein: Die 170 Kommunen, die bereit zur Hilfe sind, müssen persönliche Einladungen aussprechen und durch die Kraft von Bildern überzeugen.