Hans-Dieter Mechler, Initiator des Begleiter-Programms Vera und Regionalkoordinator für die Region Stuttgart, sieht die Gründe für Ausbildungsabbrüche vor allem im sozialen Umfeld der jungen Männer und Frauen.

Stuttgart - Als der vielfältig engagierte Ruheständler Hans-Dieter Mechler 2010 von der Handwerkskammer Stuttgart angesprochen wurde, ob er die Initiative Vera zur Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen in Baden-Württemberg bekannt machen wolle, hätte er nicht zu träumen gewagt, welchen Erfolg das Programm einmal haben wird. Der Südwesten ist damals als letztes Bundesland gestartet – und heute bundesweiter Vorreiter.

 

Herr Mechler, wieso brechen junge Menschen ihre Ausbildung ab?

So viele unterschiedliche junge Männer und Frauen wie wir begleiten, so viele Probleme gibt es auch. Aber der überwiegende Teil der Probleme, ich würde sagen 70 Prozent, hat wenig mit der Schule oder dem Arbeitgeber zu tun, sondern spielt sich im privaten Bereich und dem sozialen Umfeld ab. Da wird aus den kuriosesten Gründen aufgegeben. Gerade bei Menschen mit Migrationshintergrund haben die Gruppe oder enge Bezugspersonen ein unheimliches Gewicht – leider auch im Schlechten.

Können Sie einen solchen Fall beschreiben?

Ein Friseurmeister hatte eine Auszubildende, eine tolle junge Frau mit guten Schulnoten, bei der anfangs alles gestimmt hat. Dann kommt sie plötzlich nur noch zu spät oder gar nicht mehr und wird in der Arbeit patzig. Er wollte sie aber unbedingt behalten und bat uns um Hilfe. Nach zwei Tagen wussten wir, wo das Problem lag: Sie hatte einen Freund, der den ganzen Tag nichts zu tun hatte und von ihr verlangte, dass sie ihm rund um die Uhr zur Verfügung steht. Dieser jungen Frau – zwischen Liebe und Pflicht hin- und hergerissen – mussten wir klarmachen: ‚Sprich mit deinem Freund und sag ihm, was Sache ist. Nach 17 Uhr und am Wochenende hast du für ihn Zeit, ansonsten geht das schief.‘ Nach ungefähr einem Vierteljahr war alles okay.

Betriebe beklagen oft schulische Defizite. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen?

Nur bedingt. Der eigentliche Hintergrund ist meist ein anderer. Oft lassen sich Azubis durch ihre Clique vom Lernen abhalten und haben alles andere im Kopf als ihre Ausbildung. Da sind zum Beispiel die männlichen Machos, die vor anderen keine Schwäche zeigen können. Solche ‚tollen Kerle‘ würden nie ihren Berufsschullehrer um Hilfe bitten und in der Gruppe über Probleme reden. Sie lernen irgendwann einfach nicht mehr auf Klassenarbeiten und sind unkonzentriert im Betrieb. Dann geraten sie in einen Strudel, bis der Arbeitgeber irgendwann sagt: ‚Mit deinen Noten und deinen Leistungen geht es hier nicht weiter – Ende der Lehrzeit.‘

Wieso gelingt es Ihnen besser als den Lehrern, Ausbildern oder Eltern, die jungen Menschen zu erreichen?

Das liegt vor allem an der absoluten Vertraulichkeit, die wir ihnen garantieren. Wenn sie es wünschen, erfährt niemand von der Begleitung durch uns, nicht einmal ihre Eltern. Dieses Vertrauen müssen wir uns bei den ersten Treffen, die auf neutralem Boden in der Freizeit der Azubis stattfinden, zunächst verdienen. Wir sagen immer: ‚Du kannst mir sagen, was du willst.‘ Oft erzählen die Azubis so viel, dass unsere Begleiter erst mal denken: ‚Was hab ich mir da bloß aufgehalst.‘ Aber es hat in den acht Jahren, in denen es uns in Baden-Württemberg gibt, noch nie nach dem ersten Gespräch ein Begleiter oder ein Azubi die Betreuung abgebrochen. Das spricht für uns.

Welche Rolle nehmen Ihre Begleiter für die Azubis ein?

Wir sind im Prinzip das, was früher der Opa war. Mein eigener Vater war sehr streng. Er war selbstständiger Unternehmer, musste nach dem Krieg vier Kinder durchbringen und hatte für unsere Belange keinen Kopf. Zum Glück hat mir mein Opa immer gesagt: ‚Dieter halt durch! Aus dir wird mal was.‘

Erziehung ist heute zwar ganz anders, aber die Konsequenz, dass Jugendliche oft auf sich allein gestellt sind, scheint erschreckenderweise ähnlich zu sein.

Darauf möchte ich hinaus. Die Eltern sind viel zu oft uninteressiert. Sie merken nicht, dass ihr Sohn oder ihre Tochter mit Problemen durchs Leben geht. Und die Kinder öffnen sich ihren Eltern gegenüber nicht.

Wie äußert sich das?

Ein typischer Fall: Eine Mutter ruft bei mir an und bittet um eine Begleiterin für ihre Tochter. Das Mädchen wolle bereits ihre dritte Ausbildung abbrechen. Sie werde gemobbt. Als ich vorsichtig nachhake, was in den beiden ersten Fällen der Grund gewesen sei, wird es ganz still am Telefon. Dann sagt die Dame nur: ‚Wenn meine Tochter sagt, sie wird gemobbt, dann wird sie gemobbt.‘ Die Mutter wusste es schlicht nicht. Die Sprachlosigkeit in den Familien ist brutal.

Wie erfolgt die Vermittlung?

Entweder kommt die Anfrage direkt von den Azubis oder vom Arbeitgeber oder Lehrer mit dessen Einverständnis. Dann suchen wir in unserer Kartei einen passenden Begleiter. Er muss in der Nähe wohnen, braucht aber nicht aus dem selben Berufsfeld zu kommen. Ich kann problemlos einen Mechatronikerlehrling mit einer Friseurmeisterin zusammenbringen. Wenn die Probleme fachlicher Natur sind, holen wir uns professionelle Hilfe bei den Arbeitsagenturen, in den Betrieben oder an den Schulen. Wir kooperieren mit Hauptamtlichen wie Schulsozialarbeitern und werden heute als Unterstützung empfunden, anders als es in der Anfangszeit war.

Wie helfen Sie den Azubis ganz konkret?

Wir geben Ratschläge und vermitteln ihnen Selbstbewusstsein. Wir begleiten sie auch bei Behördengängen oder zur Schuldnerberatung, helfen bei der Beantragung von Beihilfen oder bei der Suche nach einer Ersatzlehrstelle. Der zeitliche Aufwand ist unterschiedlich. In manchen Fällen ist das Problem binnen Wochen behoben, in anderen begleiten wir über die gesamte Lehrzeit hinweg. Das Ziel ist immer der erfolgreiche Ausbildungsabschluss. Doch selbst danach halten viele Absolventen weiter Kontakt mit ihrem Senioren-Coach.

Können Sie allen helfen?

Unsere Erfolgsquote liegt bei 80 Prozent. Ein Schornsteinfeger-Lehrling, der wegen großer Schwierigkeiten in der Berufsschule und im Betrieb abbrechen wollte, hat seine Gesellenprüfung gerade mit Auszeichnung abgeschlossen: Er wurde Kammersieger in Stuttgart und Zweitbester in ganz Baden-Württemberg. So was macht uns stolz. Das ist der Lohn der Arbeit. Aber es kommt auch vor, dass ein Azubi grundlos den Kontakt zu uns abbricht. Da sind uns natürlich die Hände gebunden. Trotzdem fällt es uns schwer, das zu akzeptieren. Es gibt viel zu viele Abbrüche. Und wer auf dem ersten Schritt ins Berufsleben eine Niederlage einsteckt, wird das selten wieder los.

Regionalkoordinator der Ehrenamtlichen Initative Vera

Person
Hans-Dieter Mechler (74) ist Regionalkoordinator der Initiative Vera (Verhinderung von Ausbildungsabbrüchen) in der Region Stuttgart. Der frühere Filialdirektor einer Versicherungsgruppe hat das Programm Ende 2010 im Südwesten initiiert. Für sein Engagement wurde er 2016 von der Stuttgarter Versicherungsgruppe und unserer Zeitung als Stuttgarter des Jahres ausgezeichnet.

Programm
Vera ist 2008 unter dem Dach des Senior-Experten-Services (SES) gestartet. Bis heute haben ehrenamtliche Senioren bundesweit 12 300 junge Männer und Frauen während ihrer Ausbildung begleitet. Das Programm wird jährlich mit rund vier Millionen Euro vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.

Südwesten
In der Region Stuttgart hat Vera seit Anfang 2011 insgesamt 840 Anfragen für eine Begleitung erhalten: 319 aus dem Handwerk, 308 aus dem IHK-Bereich und 213 aus freien Berufen. Begleitet wurden rund 600 junge Männer und Frauen. In Baden-Württemberg waren es bislang 3570 Anfragen und 2474 Begleitungen.

Helfer
Aktuell gibt es in der Region rund 240 Tandems aus Begleiter und Lehrling. Neuzugänge bei den Azubis sind mittlerweile zu fast 90 Prozent Flüchtlinge. Die Coaches arbeiten ehrenamtlich und bekommen eine Aufwandsentschädigung von 50 Euro im Monat für eine Begleitung. Sie sind allesamt Rentner und Ruheständler aus den unterschiedlichsten Bereichen – darunter sind Handwerksmeister, ehemalige Bankdirektoren, Lehrer und Schulleiter, Landgerichts- und Handwerkskammerpräsidenten a. D. sowie frühere Versicherungsvorstände.