Bordsteine, Gullydeckel, Schotterwege: Die 1,6 Millionen Rollstuhlfahrer in Deutschland begegnen solchen Hindernissen jeden Tag. Im Rollstuhlparcours am Uniklinikum Heidelberg kann man üben, sie zu überwinden – und hat sogar die Chance auf eine Teilnahme bei den Paralympics.
Gerade mal 55 Jahre alt ist Marcus Schulze, als er vor einigen Wochen einen Schlaganfall im Rückenmark erleidet. Seitdem ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Es gibt Hoffnung, dass er irgendwann wieder gehen kann. Bis dahin ist es allerdings ein langer Weg. Jetzt ist seine oberste Priorität zu lernen, mit dem Rollstuhl im Alltag zurecht zu kommen.
Marcus Schulze ist einer von etwa 350 Patienten pro Jahr, die unfall- oder krankheitsbedingt auf einen Rollstuhl angewiesen und deshalb am Heidelberger Universitätsklinikum in Behandlung sind. Für sie ist es wichtig, den Alltag als Rollstuhlfahrer in einem geschützten Raum zu üben. Denn Ungeübte können auf der Straße oder auch im eigenen Zuhause schnell in schwierige Situationen geraten. Möglich ist das Üben nun wieder im frisch renovierten Rollstuhlparcours im Zentrum für Orthopädie, Unfallchirurgie und Paraplegiologie des Uniklinikums.
Rollstuhlparcours – fast wie im Grünen
Der Parcours liegt zwischen zwei Klinikgebäuden und ist über barrierefreie, hell gepflasterte Wege erreichbar. Schon hier wird aber geübt, Steigungen zu bewältigen. Durch die vielen Sträucher und Blumen entlang der Wege, die fast auf Kopfhöhe wachsen, fühlt man sich fast wie mitten in der Natur. Vor ein paar Wochen seien hier noch die Gärtner zugange gewesen, erzählt Norbert Weidner, Ärztlicher Direktor der Klinik für Paraplegiologie. Nun ist alles akkurat gepflegt, der Himmel strahlend blau und der Parcours-Platz bei der kürzlichen Neueröffnung mit einer Luftballon-Girlande geschmückt.
Die Stimmung ist fröhlich-aufgekratzt. Das Klinikpersonal in seinen leuchtend royalblauen Kitteln schwatzt durcheinander. Die Patienten um Marcus Schulze warten im Schatten der aufgespannten Sonnenschirme. Sie sind bereit loszulegen und zu zeigen, was sie im Parcours bereits gelernt haben. Nachdem das rote Band feierlich durchtrennt ist, rollt der erste Patient in Richtung Parcours, die anderen folgen. Dabei werden sie vom Klinikpersonal unterstützt.
Das Motto lautet: „Nix wie raus!“
In Deutschland leben mehr als 1,6 Millionen Menschen, die auf den Rollstuhl angewiesen sind. Barrierefreiheit in Städten sollte also eine Selbstverständlichkeit sein. Doch die Realität sieht anders aus, wie Manfred Sauer, Stifter des Rollstuhlparcours, weiß. Er selbst sitzt seit 61 Jahren im Rollstuhl – ein Badeunfall endete in einer Querschnittslähmung. Mit seiner Stiftung hat er bereits vier solcher Übungsparcours-Projekte in Deutschland gefördert. Das Motto dabei: „Nix wie raus!“
Also, ab in den Heidelberger Parcours. Er ist schneckenförmig aufgebaut, so muss man an jeder Station vorbei. Straßenbeläge wie Schotter, Kopfsteinpflaster und Sand unterteilen den Pfad in verschiedene Abschnitte. Auf dem Boden liegen Kabelbrücken, in den Beton sind Regenrinnen eingelassen, Absätze stellen Bordsteinkanten dar. In der Sonne glänzt eine Metallstange, an der man den Ein- oder Ausstieg in einen Bus üben kann. Der Absatz ist fast 20 Zentimeter hoch.
Das schwierigste für Marcus Schulze ist aber der Gully. „Da muss man die richtige Vorgehensweise finden, um nicht mit den kleinen Rädern stecken zu bleiben. Dann ist es schwierig, allein wieder rauszukommen.“ Am Anfang habe er sich vor einem Hindernis erst überlegen müssen: „Wie komme ich da drüber?“ Inzwischen habe er gelernt, sich schnell in Erinnerung zu rufen, was er schon kann. Bereits nach zwei Wochen, also einem kurzen Zeitraum, habe er große Fortschritte gemacht. Mittlerweile seien er und die anderen Patienten ständig hier.
Es geht um mehr als „nur“ Genesung
Das beobachtet auch Anne Kenkenberg. Sie leitet die Abteilung Physiotherapie an der Klinik für Paraplegiologie und weiß, dass es zwischen den Patienten Unterschiede gibt. Einige beweisen im Parcours großes Talent. Während des Trainings betreiben Kenkenberg und ihr Team daher auch Talentsuche für die Paralympics. In erster Linie gehe es aber darum, nach einer Verletzung wieder im Alltag zurechtzukommen. „Es braucht Zeit, bis die Fähigkeit da ist, ein Hindernis zu überwinden. Und dann noch mehr Zeit, bis das automatisch abläuft.“ Ziel sei vor allem, Patienten die Möglichkeit zu geben, ihr Leben aktiv zu gestalten. „Wir wollen größtmögliche Selbstständigkeit und Unabhängigkeit fördern“, so Kenkenberg.
Mittlerweile hat sich der Parcours nach und nach geleert. Die Patienten sind in die Klinikgebäude zurückgekehrt, wo ihre Therapien auf sie warten. Neben dem Parcours, ein fester Bestandteil des Tagesablaufs, stehen etwa Sport in der Halle und Lauftraining auf dem Plan. „Letzteres funktioniert bei mir richtig gut“, sagt Marcus Schulze mit einer Mischung aus Erleichterung und Stolz. Anderen rät er deshalb, nicht aufzugeben: „Man kann alles irgendwie meistern.“
Entscheidend ist laut Schulze aber vor allem eins: Man müsse die Situation akzeptieren. „Es ist jetzt anders. Aber man muss lernen, damit umzugehen, das Schicksal anzunehmen und positiv zu bleiben“, sagt Schulze mit fester Stimme. Das Training im Rollstuhlparcours sei dabei eine gute Unterstützung – um wieder mobiler zu werden, aber auch um das Selbstbewusstsein zu stärken: „Es ist wichtig, dass es solche Angebote gibt.“ Marcus Schulze fühlt sich fast schon gewappnet, sich in die Heidelberger Altstadt zu wagen – trotz Kopfsteinpflaster, Bordsteinkanten, Schienen, Steigungen und Gefälle. Sollte er mit den Rädern im Gullydeckel stecken bleiben, muss er aber weiterhin auf Unterstützung bauen: „Wenn die Leute nicht von sich aus Hilfe anbieten, habe ich auch keine Scheu, danach zu fragen.“