Hilfe für Stuttgarter Familien Kinder krebskranker Eltern – einfach die Puppen tanzen lassen

Schabernack in der Krebsberatungsstelle Stuttgart: Mit dem Puppenspiel schafft die Theatertherapeutin Anja Feldmann schnell gute Laune. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Wenn ein Elternteil an Krebs erkrankt, gerät das Familienleben aus den Fugen. Die Krebsberatungsstelle Stuttgart hat für betroffene Kinder ein neues Angebot geschaffen.

Gesundheit für Menschen in Stuttgart: Regine Warth (wa)

Der Teufel und die Hexe machen an diesem Nachmittag gemeinsame Sache: „Komm, wir wollen heute richtig böse sein“, quietscht der Teufel. „Ja, richtig böse“, sagt die Hexe kichernd. Der Schabernack lässt nicht lange auf sich warten: Aus Tüchern wird eine Höhle gebaut, und ein kleiner Spiderman wird in die Falle gelockt. Die Bösewichte haben Hunger. Natürlich ist alles nur ein Spiel, spontan erdacht von Anja Feldmann und einem sechsjährigen Jungen, die in der Krebsberatungsstelle Stuttgart die Hand- und Fingerpuppen tanzen lassen.

 

Jeden Donnerstag nimmt sich die Theatertherapeutin einen Nachmittag Zeit für ihre Klienten. Es sind allesamt Kinder, bei denen ein Elternteil an Krebs erkrankt ist – teils im Kindergartenalter, aber auch Jugendliche. In der Tübinger Straße 15, wo die Krebsberatungsstelle Stuttgart ihren Sitz hat, kommen sie in einen großen Raum: Auf dem Tisch liegen Hand- und Fingerpuppen, Gesellschaftsspiele, Bücher oder Stifte. Ein kleiner Fundus an Kostümen ist ausgebreitet, damit sich die Kinder verkleiden können. „Wenn sie es wollen“, sagt Feldmann.

Mal nicht an Mamas oder Papas Krebs denken

Alles kann, nichts muss. Das ist der Theatertherapeutin wichtig „Die Kinder müssen hier nicht angepasst sein oder ihre Gefühle hinterm Berg halten.“ Sie können das Spiel nutzen, um Sorgen, Ängste oder Trauer zu verarbeiten. Oder um mal das zu machen, was für ihre Altersgenossen normal ist: einfach ausgelassen sein – und mal nicht an den Krebs denken, der das Familienleben im Alltag stets im Griff hat.

Wenn ein Elternteil an Krebs erkrankt, ist für Kinder plötzlich nichts mehr so, wie es war, bestätigt Julika Schwartz (Name geändert). Anfang des Jahres wurde bei der 38-Jährigen die Diagnose Brustkrebs gestellt. „Das hat mich aus meinem relativ geordneten Leben katapultiert.“ Plötzlich war Julika nicht nur mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert, sondern auch mit der Frage, wie sie im Familienleben damit umgehen soll: „Ich konnte ja aufgrund der Krankheit und der Therapien nicht mehr die Mutterrolle für meine beiden Söhne erfüllen, die sie und ich gewohnt waren.“

Kinder krebskranker Eltern geraten im Alltag ins Hintertreffen

Julika Schwartz hat sich früh Hilfe geholt – bei der Krebsberatungsstelle Stuttgart. Sie kannte das Team schon aus der Zeit, als ihr Vater schwer erkrankte. Damals hatte sie als Angehörige das Gespräch mit den Fachkräften gesucht, um sich mit der Erkrankung auseinanderzusetzen. „Von daher wusste ich, wie gut es tut, wenn nicht nur Patienten, sondern auch deren Familien psychologische Unterstützung erhalten.“ Als sie hörte, dass nun auch Kinder krebskranker Eltern ein Angebot erhalten, kam sie mit ihren fünf und acht Jahre alten Söhnen vorbei. „Mein Ziel ist es, dass nicht nur ich den Brustkrebs überwinde, sondern dass wir diese Zeit gemeinsam als Familie durchstehen.“

In der Krebsberatungsstelle erleben die Mitarbeiter, wie tief die Diagnose Krebs das gesamte Familienleben erschüttert. „Die Eltern sind oft mit ihrer eigenen Krankheitsbewältigung überfordert und können den Kindern nicht die Unterstützung geben, die sie bräuchten“, sagt Pau Edo-Ferrando, der Leiter der Krebsberatungsstelle Stuttgart. Dabei ist die psychische Belastung für Kinder in solchen Lebenslagen groß: „Sie ziehen sich oft zurück, ihre schulischen Leistungen können leiden, Freundschaften werden vernachlässigt, und das Risiko für psychische Erkrankungen steigt.“

Pau Edo-Ferrando ist Psychoonkologe und leitet die Krebsberatungsstelle Stuttgart. Foto: Krebsberatungsstelle Stuttgart

Kinder krebskranker Eltern bekommen seit dem Frühjahr Hilfe

Frühzeitige und kindgerechte Unterstützung ist daher entscheidend, sagt der Psychoonkologe Edo-Ferrando. Weshalb sich sein Team zusammen mit dem Träger, dem Krebsverband Baden-Württemberg, in diesem Frühjahr entschlossen hat, das Projekt „Kiju“ zusammen mit der Theatertherapeutin Anja Feldmann ins Leben zu rufen. Es soll genau diese Beratungslücke in Stuttgart schließen.

Dabei erschließt Anja Feldmann gemeinsam mit den Kindern immer neue Wege, die Krankheitslast der Familie erträglicher zu machen: Gerade erst war ein Mädchen bei ihr, das damit klarkommen muss, dass die Mutter an der Erkrankung sterben wird. Im Spiel mit Anja Feldmann lässt sie die Prinzessin von der Hexe in ein anderes Universum entführen. In einer anderen Stunde greift ein Junge zu gern nach den Schaumstoffschlägern, um mit der Therapeutin eine Runde zu kämpfen – gegen die bösen Krebszellen, wie er sagt. Und es gibt die Jugendliche, die zu schwarzem Papierbögen greift und darauf neonfarbene Lettern zeichnet. Das nimmt der dunklen Farbe die Düsternis.

Kinder sollen Sorgen um das krebskranke Elternteil auch mal vergessen

Auch die beiden Tunichtgute im Spiel mit dem Sechsjährigen sind wieder an ihrem Platz: Jetzt will der Junge ein Würfelspiel ausprobieren, das er nicht kennt – und freut sich diebisch, dass er nach wenigen Zügen in Führung liegt. Anja Feldmann lacht mit.

Tiefgreifende Gespräche werden an diesem Nachmittag keine geführt. „Es geht nicht darum, die Gedanken und Emotionen der Kinder zu analysieren“, sagt Feldmann. Vielmehr sollen die Kinder das Gefühl bekommen, einfach sein zu dürfen – ohne sich erklären zu müssen. „Die Sorgen um den krebskranken Elternteil dürfen in den Hintergrund rücken, und sie brauchen dafür kein schlechtes Gewissen zu haben.“

Jährlich erkranken 37000 Mütter und Väter neu an Krebs

Rund acht Familien werden in dem Projekt „Kiju“ betreut. Es werden sicher schnell mehr werden: Jedes Jahr erhalten nach Angaben des Robert Koch Instituts rund 37 000 Mütter oder Väter in Deutschland die Diagnose Krebs. Schätzungen zufolge sind demnach etwa 50 000 Kinder und Jugendliche pro Jahr von einer elterlichen Krebserkrankung betroffen. Dies entspricht in etwa ein bis zwei betroffene Kinder pro Kindergartengruppe oder Schulklasse.

Im Großraum Stuttgart gibt es bislang kein Angebot, diesen Kindern zu helfen. „Das Problem ist die Finanzierung“, sagt Edo-Ferrando. Eine Unterstützung seitens der Krankenkassen gibt es nicht, das Projekt wird von Spenden finanziert. Dabei gibt es längst Studien, dass diese „young carer“ – wie die Kinder krebskranker Eltern in der Fachsprache genannt werden – eher von negativen psychischen Auswirkungen betroffen sind, sozial isolierter sind und eher unter körperlichen Beschwerden leiden als andere Gleichaltrige.

Den Kontakt zwischen den Kindern krebskranker Eltern fördern

Das Team hofft, noch mehr für die Kinder anzubieten: „Es wäre wünschenswert, wenn wir künftig den Austausch auch mit anderen betroffenen Kindern ermöglichen und soziale Kontakte fördern könnten“, sagt Edo-Ferrando. Dem Team schweben auch gemeinsame Ausflüge mit Familien vor, um positive gemeinsame Erlebnisse schaffen und den Zusammenhalt zwischen Eltern und Kindern zu stärken.

Der Kampf gegen Krebs verlangt der Familie ein ordentliches Pensum an Durchhaltevermögen ab, sagt Julika Schwartz. Und doch hat die Familie wieder zu einem gewissen Maß an Normalität zurückgefunden – auch dank der Hilfe durch die Krebsberatungsstelle: Erst kürzlich kamen die Söhne mit neuen Büchern nach Hause mit Titeln wie „Der Chemo-Kasper und seine Jagd auf die bösen Krebszellen“ oder „Radio-Robby und sein Kampf gegen die bösen Krebszellen“. Sie wollen mehr über die Erkrankung wissen, sagt die Mutter. Die Gespräche sind offener geworden. „Daran merke ich, dass wir gemeinsam auf einem guten Weg sind.“

Krebs – schnelle Hilfe für die Psyche

Beratung
Krebsberatungsstellen unterstützen im Umgang mit der Krankheit und beraten zudem bei sozialrechtlichen Fragen, beispielsweise zur finanziellen Absicherung, zur Rehabilitation oder zur Schwerbehinderung. Eine Adresssuche bietet das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg an: https://www.krebsinformationsdienst.de/krebsberatungsstellen. Die Krebsberatungsstelle vom Krebsverband Baden-Württemberg bietet schnelle Hilfe für die ganze Familie: https://www.kbs-stuttgart.de/

Förderung
Der Krebsverband Baden-Württemberg ist gemeinnützig und arbeitet unabhängig von wirtschaftlichen Interessen. Er ist allerdings auf Spenden und Förderungen angewiesen: Spendenkonto bei der Landesbank Baden-Württemberg IBAN: DE 97 6005 0101 0001 013900

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