In Nepal sind historische Bauten und Krankenhäuser eingestürzt, Ärzte operieren Verletzte in Zelten. Mehr als 2400 Tote werden bisher gemeldet, aber viele abgelegene Orte sind noch nicht per Hubschrauber erreicht worden.

Stuttgart/Kathmandu - In der Altstadt Kathmandus mit seinen verwinkelten, engen Gassen ist von dem 60 Meter hohen Dharahara-Turm nur etwas mehr als das Fundament geblieben. Das Erdbeben der Stärke 7,8 auf der Richterskala, das am Samstag den gesamten Himalaja in seinen Grundfesten erschütterte und in Nepal, Tibet, Bangladesch und Nordindien mehr als 2400 Tote forderte, hat das Weltkulturerbe wie ein Stück trockenen Kuchens zerkrümelt. Der Turm war 1832 zu Ehren der Königin von Nepal gebaut worden, hatte fast 200 Jahre alle Beben überstanden und war erst vor zehn Jahren für die Öffentlichkeit freigegeben worden.

 

„Ich habe Angst vor meinem eigenen Haus“, erzählte ein Bewohner der Hauptstadt, „ich fürchte mich vor meinen eigenen vier Wänden.“ Denn auch am Sonntag versetzten heftige Nachbeben die schockierten Überlebenden in Panik. Soldaten kämpfen sich mit Pickäxten und Schaufeln durch die Trümmerberge der am Freitag noch malerischen Altstadt. Maschinen kommen durch das Gewirr der engen Straßen nicht durch. Nepalesen versuchen mit bloßen Händen die Trümmer wegzuräumen, unter denen sie Verwandte und Freunde vermuten.

Tausende von Nepalesen haben wegen der Nachbeben im Freien übernachtet, obwohl die Temperaturen in vielen Gegenden der Himalaja-Region noch merklich abkühlen. Währenddessen versuchen Hilfs- und Entwicklungshilfeorganisationen aus aller Welt Kontakt zu ihren Kollegen in Nepal aufzubauen, berichten aber von großen Schwierigkeiten.

Nepal hat internationale Hilfe angefordert

Nepal zieht im Sommer zahlreiche Touristen an, die in entlegenen Gebieten auf Wandertouren gehen. Außerdem ist das Land wegen seiner Tierwelt bei Naturschützern aus aller Welt ein beliebtes Reiseland. Experten erwarten daher, dass auch Ausländer unter den Opfern sein werden. Die Bundesregierung versuche mit Hochdruck, das Schicksal von Deutschen im Katastrophengebiet zu klären, teilte das Bundesaußenministerium am Sonntag in Berlin mit. Die Recherche sei schwierig, weil es sich meist um Individualreisende handeln dürfte, die sich weder an- noch abmelden müsste, hieß es aus dem Auswärtigen Amt.

In der Hauptstadt konnten auch die Krankenhäuser dem Beben nicht standhalten. Einige Ärzte griffen kurzerhand auf der Straße zum Skalpell. Schließlich wurden einige Zelte besorgt und bald stapelten sich neben ihnen Gliedmaßen, die bei Notamputationen entfernt werden mussten. Nepal bat bereits in der Nacht zum Sonntag um internationale Hilfe. „Das Land braucht als erstes Such- und Rettungsmannschaften, Zelte für Krankenhäuser, Maschinen zur Beseitigung von Trümmern und Hubschrauber, um in entlegene oder abgeschnittene Gebiete zu gelangen“, hieß es in einem ersten Aufruf von UNOCHA, dem für humanitäre Hilfe verantwortlichen Zweig der Vereinten Nationen.

Am schlimmsten wütete das Beben in den Distrikten Gorkha, der Heimat der Gurkhas, und Lamjung. Sie liegen nicht weit von der Hauptstadt Kathmandu entfernt. Die Stromversorgung ist unterbrochen, die Kommunikation funktioniert nur teilweise. Am Flughafen von Kathmandu, der am Sonntagmorgen wieder für den Zivilverkehr öffnete, standen gelandete Maschinen Schlange, bevor sie in Parkpositionen manövrieren konnten. Es gab nicht genug Personal. Viele Angestellte versuchten stattdessen wie Tausende von anderen Nepalesen verzweifelt, Informationen über das Schicksal ihrer Familien zu erhalten.

Lawinen versperren Bergsteigern den Rückweg

Welche Gewalten das Erdbeben freisetzte, wurde am Mount Everest, dem höchsten Berg der Erde, deutlich. Teile des mit Bergsteigern gefüllten Basislagers in 5150 Metern Höhe wurde von einer Eis- und Schneelawine verschüttet. „Ich bin um mein Leben gerannt“, twitterte ein rumänischer Bergsteiger nach der Katastrophe. „Ich kann nicht glauben, dass ich noch lebe“, erklärte der in Singapur lebende Meeresbiologe George Foulsham gegenüber der Nachrichtenagentur AFP, „ich sah eine 50 Stockwerke hohe Schneewand auf mich zukommen.“ 18 Menschen starben am Mount Everest, mindestens 60 wurden an dem Berg verletzt. Hubschrauber holten am Sonntag einige der Verletzten ab, während aus den Tälern der Umgebung immer wieder das unheimliche Röhren und Rauschen von Erdrutschen ertönte.

Währenddessen herrscht immer noch Ungewissheit über das Schicksal der Menschen, die sich in Lagern Eins und Zwei über dem Basiscamp aufhielten. Eisstürze und niedergegangene Lawinen versperren ihnen den Abstieg. Zudem ist unbekannt, wie viele der Bergsteiger ihre Zelte verloren. Eine Nacht im Freien am Mount Everest kann tödlich sein. „Es wird noch mehr Tote geben“, sagte ein Sherpa im Basislager, bevor er sich auf den Weg ins Tal machte. Der Satz sollte die Lage am Mount Everest beschreiben. Aber er gilt ebenso passend für ganz Nepal. Denn je mehr Klarheit die Behörden über die Verwüstungen gewinnen, umso höher steigt auch die Zahl der Toten.