Im Stuttgarter Nord ist am Samstag eine bemerkenswerte Uraufführung über die Bühne gegangen. Andres Veiels „Himbeerreich“ taucht dokumentarisch in die Finanzwelt ein – und liefert Aufklärung der allerbesten Sorte.

Stuttgart - Hans Helmut Hinz macht seinem Namen alle Ehre. Er ist tatsächlich wie Hinz und Kunz, ein unscheinbarer Allerweltsmensch, den man morgens mit Hut und Mantel am Tschibo-Stehtisch treffen könnte. So unauffällig wie die Garderobe wäre dort auch sein Auftreten, es sei denn, man vertiefte sich in seine Physiognomie. Diese Verschmitztheit um den Mund, diese Wachheit in den Augen, dieser pfiffige Glanz auf dem Gesicht! Hinz, wie er von Jürgen Huth gewitzt gespielt wird, muss man sich als zufriedenen Angestellten vorstellen, dessen Unterwürfigkeitsglück freilich im Verborgenen blüht: Er ist stolz darauf, mehr zu wissen als alle anderen. Als Chauffeur von Großbankern, die in seiner Limousine redselig werden, kennt er ihre Länder und Kontinente erschütternden Deals aus dem Effeff. Doch statt sich über deren kriminelle Geschäftspolitik zu empören, berauscht er sich an seinem Geheimwissen – und hier, beim Ausbruch seiner ersten Euphorie, setzt das tolle Stück von Andres Veiel ein: Die Hände in weißen Chauffeurshandschuhen, eilt Hinz/Huth lakaienhaft zur Rampe und ruft in bester Jahrmarktslaune das „Große Fest“ aus, den ersten Akt des „Himbeerreichs“. Fünf Akte später wird alles anders sein. Das „Große Fest“ der Banker und Broker mündet in den „Großen Regen“, die Euphorie in die Depression, der Aufbruch in den Untergang. Ein erwartbar apokalyptischer Verlauf, zugegeben, sofern man sich wie Veiel als kritischer Zeitgenosse mit dem prekären Zustand der Finanzwelt auseinandersetzt. Gänzlich unerwartet jedoch, weil mit Eigensinn überraschend, mit Scharfsinn bestechend ist die Art, wie Veiel als Autor und Regisseur diese Abwärtskurve im „Himbeerreich“ beschreibt: hochgradig komplex, pendelnd zwischen Individuellem und Systemischem, zwischen Konkretion und Abstraktion. Und weil sich zum steten Etagenwechsel noch die Reflexion gesellt, das Nachdenken der Banker und Broker über ihr eigenes Tun, entgeht das vom Stuttgarter Schauspiel uraufgeführte, mit dem Deutschen Theater in Berlin koproduzierte Stück auch der Klischee-Falle. Auf der Bühne im Nord stehen keine Thesen auf zwei Beinen, sondern Menschen, die den Thesen ihr Fleisch und Blut geben und sie gerade deshalb zum Laufen bringen. Und was wir sonst nur als steigende und fallende Aktienkurse wahrnehmen, wird im „Himbeerreich“ in seinem Weshalb und Warum sinnlich erfahrbar.

 

Von oben schwebt die Finanzwelt herab

Diese enorme Versinnlichung ist – neben den Spielern, die Perfektionsarbeit leisten – der Arbeitsmethode von Andres Veiel zu verdanken. Vom Dokumentarfilm kommend, hat er nämlich auch dieses Drama nicht im Kopf recherchiert, sondern in  der Wirklichkeit. Ausschließlich. Und gründlich. Dass kein einziger Satz in seinem Stück fiktiv ist, wie er beteuert, sondern garantiert in einem seiner 25 Interviews mit hochrangigen Bankern gefallen ist, in Frankfurt und Zürich, Luxemburg und London – diese Textauthentizität glaubt man dem Regieautor sofort, wenn er nach der Kirmesansage das „Große Fest“ dann tatsächlich beginnen lässt. Hinz, der Chauffeur mit den Glacéhandschuhen, verabschiedet sich mit loyaler Devotheit in den Hintergrund und gibt den Vordergrund frei für Finanzmanager im Business-Look.

Von oben schweben vier Herren und eine Dame in Aufzügen auf die Bühne herab. Deren Wände hat Julia Kaschlinski mit kühl glänzendem Silber ausgeschlagen, eine Mischung aus schicker Chefetage, bombensicherem Tresorraum und keimfreier Gefängniszelle. Hermetisch von der Welt abgeschlossen ist dieser karg mit Bürostühlen möblierte Bankertreff allemal, so lukendicht versiegelt, dass im Normalfall kein Sterbenswort nach außen dringt. Also reden sie ungeschützt über sich und die Geldgeschäfte, die sie in Sitzungen beratschlagen, verabschieden und verrichten. Dass sie dabei in einem Haifischbecken leben, daran lässt keines der fünf Alphatiere auch nur den geringsten Zweifel.

Umsichtig verdichtet Veiel dabei sein telefonbuchstarkes Material. 1400 Seiten Gespräche, eingestrichen auf vierzig Seiten, inklusive Hinz verteilt auf sechs Figuren, die im „Himbeerreich“ nun eben als profilierte Charaktere erscheinen. Da ist Dr. Brigitte Manzinger, die von Susanne-Marie Wrage als moderne Lady Macbeth gegeben wird. So, wie Shakespeares Reichskönigin einst Geister angerufen hat, um Gefühle erkalten zu lassen, so ruft Veiels Finanzkönigin die Neurowissenschaften an, um Mitleid und Angst aus ihrer neoliberalen Welt zu verbannen. Der von Sebastian Kowski gespielte Niki Modersohn ist da allerdings schon weiter. Als „Kampfmaschine“ im Fliederhemd sticht er mit großem Eifer missliebige Kollegen aus und fädelt windige Deals ein – und worum es sich bei den Geschäften im Einzelnen handelt, erfährt man im eben nicht nur Privates erhellenden „Himbeerreich“ auch noch.

Veiel, der behutsame Aufklärer

„Die Deals“ ruft Hinz dem Publikum entgegen und eröffnet den zweiten Akt des Finanzdramas. Manzinger und Modersohn sonnen sich in millionenschweren Spekulationen mit Lebensversicherungen und Immobilien, auf deren Niedergang sie, gewinnbringend, auch schon wieder Wetten abgeschlossen haben. Ansberger und Dr. Dr. h.c. Hirschstein indes, also Manfred Andrae und Joachim Bißmeier, warnen davor. Als Banker alter Schule lehnen sie Hochrisikogeschäfte ab, die – abermals ein großer Auftritt – vom Hinz des Jürgen Huth in verständliches Deutsch mit verständlichen Bildern übersetzt werden, nachvollziehbar auch für Kunz. Indem Veiel also unablässig Denk- und Sprachniveaus wechselt, entsteht ein dichtes Geflecht aus Monologen und Dialogen, aus dem eine Stimme dann freilich doch herausragt: die Stimme von Ulrich Matthes als Gottfried W. Kastein.

Kastein ist ein Fremdkörper im System, von Anfang an. Von der Regie kunstvoll ins Abseits choreografiert, kommentiert er mit Zynismen und Sarkasmen die „Flirts mit Mephisto“, die seine Kollegen einzugehen bereit sind. Und wenn er unbestechlich wie ein Robespierre der Bankwelt das kriminelle Finanzsystem erklärt und sich dozierend ans Publikum wendet, redet er sich am Ende seiner talkshowreifen Analyse auch in Rage. „Warum wird da keiner wütend?“, schreit er in den Saal, jäh und frontal, markerschütternd und so messerscharf, wie es nur großen, allzeit präsenten und präzisen Schauspielern gelingt. Eben Uli Matthes.

Freilich, das schrille „Empört euch!“ des Kastein ist der einzige ungezügelte Wutausbruch, den Andres Veiel im „Himbeerreich“ zulässt. Dieser Autor und Regisseur ist kein lauter Agitator wie Volker Lösch, sondern ein stiller und behutsamer Aufklärer, dem in seinem mit religiösen Disputen endenden Dokumentardrama dann ja schier die Quadratur des Kreises gelingt. Das nicht Darstellbare, er stellt es dar: Bankenkapitalismus aus der Binnenperspektive – und Stoff für Debatten, die nach der Uraufführung mit großer Wahrscheinlichkeit folgen werden. Vermutlich ist „Himbeerreich“ das Stück der Stunde.

Termine: In Stuttgart läuft das „Himbeerreich“ wieder vom 24. bis 26. Januar, am 31. Januar und 1. Februar, am 9. und 10. sowie vom 14. bis 16. Februar. Die Berliner Premiere findet an diesem Mittwoch statt.