Boy spielen nach ihrem Konzert ein formidables DJ-Set. Wanda kommen beinahe nicht am Türsteher des Freund und Kupferstecher vorbei. Eine Torte sorgt für diplomatische Verstimmungen und verschwindet schließlich ganz: Backstage-Impressionen vom New Fall Festival.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Die Welt des Pop ist herrlich überdreht. Starallüren, Sonderwünsche und vermeintliche Nebensächlichkeiten, die zu diplomatischen Verstimmungen führen können: Bei Großveranstaltungen liegt hinter den Kulissen immer eine hübsche Prise Irrsinn in der Luft, von der die Besucher vor der Bühne nichts mitbekommen. So auch beim New Fall Festival, das seit Donnerstag in Stuttgart stattfindet und an diesem Sonntag mit den Auftritten von Wilco und James Rhodes zu Ende geht.

 

Beim New Fall Festival, das zeitgleich in Stuttgart und Düsseldorf veranstaltet wird, wo die Konzertreihe schon seit fünf Jahren Popmusik an ungewöhnliche Orte bringt, manifestiert sich das Backstage-Drama bei der Stuttgart-Premiere in einer wunderschönen Torte, die – so der ursprüngliche Plan – von der Band Wanda an Valeska Steiner von der Band Boy – Steiner hat an diesem Tag Geburtstag – bei der After-Show-Party des Festivals am Freitag im Club Freund und Kupferstecher überreicht werden soll.

Diplomatische Verstimmungen rund um eine Torte

Hätte überreicht werden sollen, denn an irgendeiner Stelle kommt es am Freitag zu Verstimmungen rund um die Tortenübergabe. Emma McNutt, die das Stuttgarter Büro des New Fall Festivals leitet, hätte beinahe den diplomatischen Dienst der beteiligten Länder Deutschland, Schweiz (Boy) und Österreich (Wanda) kontaktiert, um zwischen den Band-Umfeldern in der Torten-Causa zu vermitteln, allein, es hilft alles nichts, am Ende wird die Torte nicht übergeben.

Dabei fängt alles so gut an am Donnerstagabend beim Auftakt-Konzert von Dillon in der Liederhalle. Das Veranstalter-Team aus Düsseldorf staunt nicht schlecht über die architektonische Wucht der Spielstätte. („Das sieht ja aus wie die alte Bundesrepublik.“ – „Ja, die Liederhalle ist das Bonn Stuttgarts.“) Der Liederhallen-Charme liegt ja nicht nur in der Wirtschaftswunder-Architektur begraben, Verzeihung, begründet, sondern auch in der Gleichzeitigkeit der Veranstaltungen, die hier abgehalten werden können. Am Donnerstag also ein Gewerkschafts-Treff, Klassik und eben das New Fall Festival, was zu herrlichen Momenten der Milieu-Konfrontation führt.

Dillon oder Dylan? Haptsache Literaturnobelpreis

Riesling-Empfang vor dem Konzert von Dillon. Ein schwäbisches Klassik-Paar im besten Alter will wissen, wer da spielt. Veranstalter aus Düsseldorf: „Dillon.“ Klassik-Paar aus Stuttgart: „Ach hat der jetzt endlich den Literaturnobelpreis angenommen? Super.“ Veranstalter aus Düsseldorf: „Ja, bei uns ging er ans Telefon.“

Bei der Eröffnung spricht neben Veranstalter Hamed Shahi Moghanni auch Pop-Oberbürgermeister Fritz Kuhn, der in solchen Fällen gerne auf Tuchfühlung zum jungen Publikum geht. Scheinbar ist der Beleuchter aber CDU-Mitglied, denn mitten in Kuhns Ansprache geht das Licht aus, Gelächter im Publikum, das Licht geht wieder an, Kuhn nimmt es gelassen, „wir sehen, alles funktioniert“.

Konsum-Demo parallel zum Festival

Am Freitag ist die Innenstadt dann voll mit Luftballons und Tüten einer japanischen Einkaufskette. Ein Gast aus Düsseldorf hält das Schauspiel für eine Demo, was gar nicht so falsch ist, es ist eine Demo, aber nicht gegen S21, sondern für Konsum. Wenigstens sehen die Tüten besser aus als die von Primark. 700 Menschen stehen vor dem Shop an. Was das über unsere Gesellschaft aussagt, muss jeder selber entscheiden.

Wir schweifen ab. Am Freitagabend stehen beim New Fall Festival drei Konzerte auf dem Programm, wir heften uns an die Fersen von Festival-Fotograf Reiner Pfisterer, um bei allen drei Auftritten hinter die Kulissen zu blicken. Klingt toll, artet in der Praxis aber in Arbeit aus. Erste Fotos im Neuen Schloss bei den Grandbrothers, dann aber hurtig hinüber zur Liederhalle. Der Veranstalter kündigt an, dass uns ein Auto hinüberfährt. Wir erwarten eine Limousine, mit verdunkelten Scheiben, mindestens, endlich angekommen im Rock’n’Roll. Vor der Schloss-Tür steht dann ein Stadtmobil-Kombi. So wird die Geschichte von Pop in Stuttgart weitererzählt: Carsharing, Riesling-Drugs und Rock’n’Roll.

Die Fototasche und das Catering machen Bekanntschaft miteinander

Im Auto riecht es nach Käse. Der Fahrer: „Im Kofferraum befindet sich das Catering.“ Nach zwei Metern Fahrt verlegenes Räuspern des Fotografen: „Meine Kameratasche ist auf das Catering gefallen.“ Herzinfarkt beim Veranstalter: „War das die Torte für Boy?“ Entwarnung, es waren nur die Käsebrötchen, der Rest der kurzen Fahrt wird die Kameratasche über die Rückbank stagedivend festgehalten.

Dann: Mit quietschenden Reifen direkt vor dem Eingang der Liederhalle halten („Rock’n’Roll!“), alle springen aus dem Auto, der Fahrer auch, huch, Handbremse vergessen, die Käsebrötchen rollen in Richtung Literaturhaus, ist das jetzt noch Rock’n’Roll oder schon Kabarett? Keine Zeit nachzudenken, wir rennen zu Wanda, speckiger Schmährock mit einem, nun ja, zurückhaltenden Sänger, toller Blick von der Empore auf den Hegel-Saal, keine Zeit zu verlieren, weiter zu Boy in den Mozart-Saal, Kontrastprogramm, zerbrechliche Mädchen statt speckige Wiener, glückselig blickende Pärchen, eine Ausdruckstänzerin, ganz arg bei sich, Reiner Pfisterer macht Fotos, eines schöner als das andere, Zugabe, Schluss, kurz noch mal zu Wanda? Mist, auch schon fertig. Durchatmen.

Stressabfall im famosen Freund und Kupferstecher beim Boy-DJ-Set

Das Finale des Freitags findet statt im Club Freund und Kupferstecher am Berliner Platz, die Profis sprechen vom Kupfi, der Gast aus Düsseldorf kann sein Glück kaum fassen („So etwas gibt es bei uns nicht!“). Die Party wird von der StZ-Tochter Stadtkind präsentiert.

Christiane Falk, Journalistin und DJ, legt gewohnt stilsicher auf, Boy werden folgen und Musik spielen, die ganz weit weg ist von ihren eigenen Produktionen, eine Mischung aus 90er-Jahre-Jugendhaus und Hip-Hop-Club der Nuller Jahre, sehr schön. Wanda wären beinahe nicht reingekommen, weil sie schon vor dem eigentlichen Einlass Rockstar-mäßig an der Schlange vorbeidrängeln wollten, aber nicht mit Türsteher Alexander Petrajtis, früher Mixed-Martial-Arts-Kämpfer, heute Mixed-Martial-Arts-Kampf-Veranstalter mit abgeschlossenem Physik-Studium („Wer sind die überhaupt, ich kenne die nicht!“).

Im Club dann Stressabfall beim Veranstalterteam, Emma McNutt („Fun Fact: Ich habe eine Nussallergie“) ist glücklich, darf sie auch sein, sie hat einen tollen Job gemacht. Nur eine Frage bleibt um kurz nach 3 Uhr am Samstagmorgen immer noch unbeantwortet. Wieso wurde die Geburtstagstorte nicht wie vereinbart im Club überreicht? Lag es daran, dass Wanda nach dem Genuss ihrer Maultaschen und der Knödel mit Waldpilzsauße im Backstage die Süßspeise für sich behalten wollten? Oder lag es daran, dass die beiden Boy-Mädchen so aussehen, als wären sie keine großen Torten-Esser? Hinter den Kulissen der Pop-Kultur bleiben die wirklich großen Fragen manchmal unbeantwortet.


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