Vor 25 Jahren formierte sich die Hip-Hop-Clique Die Kolchose und rückte Stuttgart ins zentrale Interesse der deutschen Popkultur: DJ Emilio erinnert sich an die Anfänge.

Stuttgart - Naja, ein viertel Jahrhundert. Natürlich macht mir das auch bewusst, wie alt ich mittlerweile sein muss“, sagt Emil Calusic und rechnet kurz nach. Ergebnis: 46 Jahre, die meisten davon hat der Stuttgarter Kroate mit Hip-Hop verbracht. Für die kommenden Jahre gibt’s schon eine Neuerung: Seit ein paar Wochen lebt ein italienischer Wasserhund bei DJ Emilio und seiner Frau zu Hause, Cuba – quirlig, rotzfrech und interessiert an allem. Ein bisschen wie Emilio, nur mit mehr Haaren.

 

Wirklich greifbar will das 25-Jährige Jubiläum der Kolchose aus ganz anderen Gründen für Emilio nicht werden: „Für mich ist die Kolchose etwas, das grob bis 1997 oder 1998 existiert hat beziehungsweise ungefähr bis dahin so funktionierte, wie es ursprünglich geplant war. Danach ging jeder seinen eigenen Weg.“ Denn nachdem der lose Zusammenschluss Stuttgarter Hip-Hop-Aktivisten im Herbst 1997 gemeinsam auf eine erfolgreiche Deutschlandtournee ging, sollte sich für die Clique alles ändern. Stuttgart machte plötzlich Furore als Hip-Hop-Stadt, Fans aus der ganzen Republik reisten Freitags in den 0711-Club im Club Prag am Pragsattel, und aus bislang respektablen Untergrundkünstlern wie Massive Töne, Freundeskreis und Afrob wurden langsam, aber sicher „normale“ Popstars.

Die Krähen waren wegweisend für Stuttgart

Emilio war anfangs Teil der wegweisenden Formation Die Krähen gemeinsam mit DJ Thomilla, Eldin und MC Großmaul, doch Die Krähen waren bereits „durch“, bevor der Regionalzug überhaupt richtig ins Rollen kam.

„Bei unseren verschiedenen Interessen fiel es zunehmend schwer, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen“, erzählt Emil. „Ich war eher der Musik-Messi, Plattensammler, habe am Marienplatz im Soundshop gearbeitet und wollte auch viel lieber produzieren und DJ sein als rappen.“ So waren Die Krähen ein bisschen zu früh für die noch junge Szene – und dann etwas zu zerstreut für den großen Boom, der 1999 losbrach. Dennoch: Sie waren wegweisend – für Stuttgart, die Kolchose und auch für deutschsprachigen Hip-Hop. Mittlerweile zu Plattitüden heruntergerubbelte Begriffe wie „Benztown“ oder „0711“ fanden beispielsweise erstmals im Kontext von Die Krähen statt. Emilio grinst: „Ich hatte damals die Platte von MF911 gehört, habe diese „11“ gesehen und eben damit rumgespielt.“ 1994 wurde daraus „0711 Stuttgart ist die Stadt“ – ein Stück, das nie auf Platte erschien, aber dennoch gefiel, auch weil repräsentativer Lokalpatriotismus ebenfalls eine Rap-Disziplin ist.

Kurz darauf gab’s im Streetwear-Laden „Firma Bonn“ von Dirk Schumaier am Rotebühlplatz auch Pullover und T-Shirts, auf denen eine Brezel und die Zahlen „0711“ abgebildet waren, und 1996 erst gründete sich dann das 0711-Büro, um die kreativen Auswüchse der Kolchose in einigermaßen sinnvolle Bahnen zu lenken. Spätestens da wurde die Stuttgarter Telefonvorwahl zum griffigen popkulturellen Gütesiegel.

Vorher gab es nur die Fantastischen Vier

Emilio sieht die großen Momente der Kolchose auch heute noch in der Zeit davor verortet: „Die Liebe, die Passion zum Hip-Hop, das war’s eigentlich. Man war offen, neugierig, wollte machen, hatte nichts und keine Lehrmeister – und man hat sich eben gefunden“, erzählt Emilio. „Wenn’s damals einen Plan gab, dann höchstens den, sich zusammentun, um etwas mehr Wellen schlagen zu können. Zum Beispiel ein Konzert zu organisieren. Jeder von uns hatte ja gerade mal zwei bis vier Lieder.“

Erfahrungswerte mit deutschsprachigem Rap gab es zu dieser Zeit allerdings kaum. Ausgenommen Die Fantastischen Vier, doch die Popstars wurden von der jungen Szene mit maximaler Verachtung gestraft: „Wir waren sehr beeinflusst von hartem US-Rap oder Britcore. Es ging uns damals um Härte, Toughness – und die Fantas kamen mit: ‚Lass die Sonne rein‘. Nee, wir wollten harte Beats.“ Emilio lacht: „Hip-Hop war damals sehr dogmatisch – da waren viele Hardliner dabei.“ Wer sich beispielsweise nicht der Dreifaltigkeit der Kultur aus Rap, Graffitti und Breakdance verschrieb, war schnellstens als „whack“ gebrandmarkt. Das bedeutet so viel wie: kannste im Klo runterspülen.

Ein viertel Jahrhundert mit Musik

Spannend und fruchtbar war das alles trotzdem. „In jeder Stadt und in jedem Dorf gab es auf einmal Jugendliche, die auf dieses neue Hip-Hop-Ding eingestiegen sind. Jeder hat seine eigenen Einflüsse eingebracht. Damals kam etwas Eigenständigeres dabei heraus als heute,“ erzählt Emil, der als einer der besten und stilistisch variabelsten DJs der Stadt, „seit einem viertel Jahrhundert von und mit Musik lebt.“ Emil sieht es nüchtern: „Beim 20-jährigen Jubiläum auf den Hip-Hop-Open waren wir das erste Mal seit Jahren wieder versammelt. Und eben jetzt wieder.“