Gedanken lesen und Entscheidungen vorhersagen: der Hirnforscher John-Dylan Haynes erklärt bei einem Besuch in Stuttgart, was er und seine Kollegen mit ihren Hirnscannern inzwischen können. Und er fordert seine Probanden heraus, ihn auszutricksen.

Stuttgart - Die Probanden liegen im Hirnscanner und sollen sich auf das kleine, weiße Quadrat in der Bildmitte konzentrieren. „Ist es auf der linken Seite offen oder auf der rechten?“, lautet die Frage der Versuchsleiterin Anita Tusche. Bitte antworten Sie möglichst schnell! Anita Tusche arbeitet am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und am Bernstein-Zentrum Berlin, an dem die Präzision und Variabilität des menschlichen Gehirns erforscht werden.

 

Weil sich die Probanden so sehr auf ihre Aufgabe konzentrieren, nehmen sie die Bilder, die ihnen gezeigt werden, kaum wahr. Nach dem Versuch können sie sich nicht mehr zuverlässig daran erinnern, was sie außer dem weißen Quadrat gesehen haben. Franz Müntefering war dabei und Wolfgang Schäuble auch? Ach so! Doch man muss offenbar nicht bewusst nachdenken, um sich mit seinen politischen Präferenzen zu verraten. Anita Tusche schafft es auch so, anhand der Gehirnaktivität zu ermitteln, ob ihre Probanden eher der SPD nahestehen oder eher der CDU. Ihre Trefferquote liegt bei 75 Prozent – das ist zwar nicht perfekt, lässt sich aber auch nicht mehr durch bloßes Raten erklären.

Auch unbewusste Gedanken lassen sich dekodieren

Tusches Chef am Bernstein-Zentrum, John-Dylan Haynes, zitiert diese Studie, die kürzlich im Fachmagazin „Neuroimage“ erschienen ist, als einen von vielen Belegen für die Fortschritte der Hirnforschung: Sie versteht das Gehirn schon so gut, dass sie Gedanken auslesen kann, die der Proband gar nicht bewusst gedacht hat. Die Daimler-und-Benz-Stiftung hat Haynes nach Stuttgart eingeladen. Im Mercedes-Benz-Museum zeigte er anschaulich, welche Spuren des Denkens sich inzwischen dekodieren lassen.

Sogar das Publikum erkennt bei einem bunten Bild der Hirnaktivität, dass der Proband gerade an einen Stuhl denkt. Das geht, wenn man die Optionen einschränkt: Der Proband hätte ansonsten an einen Schuh, ein Haus oder ein Gesicht denken können. In seiner Arbeit beurteilt Haynes die Muster der Hirnaktivität aber nicht selbst, sondern nutzt Computerprogramme, die entwickelt wurden, um frische Fingerabdrücke mit einer Datenbank abzugleichen.

Das Experiment mit den Bildern deutscher Politiker ist für John-Dylan Haynes nur „eine interessante Spielerei der Grundlagenforschung“. Er glaubt nicht, dass seine Fachkollegen der Politik so bald helfen werden, Wahlkämpfe zu verbessern. Letztlich kann die Hirnforschung nur sagen, was Wähler empfinden, wenn sie das Foto eines prominenten Politikers sehen. Aber um das herauszufinden, könnte man sie auch einfach fragen. Dennoch mag mancher Laie stutzen, dass das Gehirn messbar mit Sympathie oder Ablehnung auf den Politiker reagiert, obwohl man dessen Bild gar nicht bewusst wahrgenommen hat.

Die Entscheidung kündigt sich sieben Sekunden vorher an

In diesem Punkt ist John-Dylan Haynes in seinem Element. Vor einigen Jahren hat er schon einmal Aufsehen erregt, als er seine Probanden im Hirnscanner bat, sich für einen von zwei Knöpfen zu entscheiden und ihn dann sofort zu drücken. Im Fachmagazin „Nature Neuroscience“ berichtete er damals, dass er in 60 Prozent der Fälle vorhersagen konnte, wie die Entscheidung ausfällt – und zwar sieben Sekunden vorher. Ein kleinteiliges Muster der Aktivität im Stirnhirn verriet die Probanden.

Solche Versuche werden Libet-Experimente genannt, weil Benjamin Libet 1979 diese Versuchsreihe begründete. Libet wies damals nach, dass der spontanen Entscheidung, einen Finger zu krümmen, ein charakteristisches Signal im Gehirn vorausgeht. Zeigt das nicht, dass Entscheidungen erst bewusst werden, nachdem das Gehirn sie getroffen hat, fragte daraufhin mancher Hirnforscher. Gerhard Roth von der Universität Bremen folgert aus solchen Experimenten sogar, dass der freie Wille bloß eine Illusion sei.

John-Dylan Haynes ist vorsichtiger. „Das Gehirn hat mindestens sieben Sekunden vorher begonnen, die Entscheidung vorzubereiten“, lautet sein Fazit aus seinem Experiment. Er trägt damit den Einwänden vieler Philosophen Rechnung. Geert Keil von der Humboldt-Universität Berlin zählt in seinem Buch „Willensfreiheit“ (de Gruyter, 2013) eine Reihe davon auf. Da geht es auch um die Frage, warum es überhaupt überrascht, dass Entscheidungen im Gehirn erst unbewusst anlaufen, bevor sie ins Bewusstsein dringen. Das dürfte eigentlich nur diejenigen stören, die an eine immaterielle Seele glauben, die das Gehirn steuert. Wer hingegen glaubt, dass das Gehirn selbst denkt, wird nicht verwundert sein, dass dessen Gedankengänge irgendwo im Kleinen beginnen.

Herausforderung: kann man unvorhersagbar entscheiden?

Geert Keil kritisiert auch, dass in den Experimenten gar keine echten Entscheidungen gefällt würden, vielmehr laufe es „auf eine Karikatur dessen hinaus, was man vernünftigerweise unter Willensfreiheit versteht“. Es geht in den Versuchen um nichts, und es gibt auch keine Gründe, die dafür sprechen, den einen oder doch lieber den anderen Knopf zu drücken. Die Versuchspersonen müssen sich einfach gehen lassen und irgendwann einem spontanen Impuls folgen und den Knopf drücken. „Wer sich stets dem überlässt, was ihm gerade in den Sinn kommt, ist nicht frei, sondern willenlos“, schreibt Keil. Diese Kritik scheint Haynes zu verstehen, denn er kommentiert seine eigene Forschung launig: „Als Hirnforscher redet man über große Themen, macht dann aber einfache Experimente.“ Doch durch seinen Vortrag zieht sich die Redewendung des „noch nicht“: Es gebe „noch“ keine universelle Maschine zum Gedankenlesen, und man müsse sich „noch“ keine Sorgen darüber machen, dass die eigenen Gedanken geheim sind. Auch während er die Grenzen seiner Forschung aufzeigt, versprüht er Optimismus.

In seinem jüngsten Experiment nutzt Haynes die Tatsache, dass sich die Entscheidung für den Knopfdruck ganze sieben Sekunden vorher in der Gehirnaktivität ankündigt. Die Zeitspanne ist lang genug, um die Probanden vorab darüber zu informieren, wie sie reagieren werden. Können sie sich ihrem Schicksal dann noch entziehen, oder werden die Orakelsprüche der Hirnforscher in Erfüllung gehen wie einst die Prophezeiungen des Ödipus?

Ganz so tragisch kann man Experimente im Hirnscanner nicht gestalten, dafür ist Haynes jedoch eine sportliche Variante eingefallen: Seine Probanden können Geld verdienen, wenn sie sich unvorhersagbar verhalten. Sie müssen nur einen beleuchtbaren Knopf drücken, solange das Licht aus ist. Doch der Knopf leuchtet oft gerade dann auf, wenn man ihn drücken möchte, denn das Licht wird eingeschaltet, sobald der Computer im Gehirn des Probanden die Anzeichen einer Absicht erkennt, den Knopf zu drücken. Die Ergebnisse seien noch nicht in einem Fachjournal erschienen, sagt Haynes, und sie sind daher noch nicht von Gutachtern geprüft worden. Doch John-Dylan Haynes wirkt zufrieden: Viel Geld haben seine Versuchspersonen bei diesem Wettkampf gegen den Hirnscanner nicht verdient.

Wie das Gehirn gescannt wird

Technik
John-Dylan Haynes verwendet wie viele seiner Fachkollegen einen Magnet-resonanztomografen, der den Blutfluss im Gehirn der Probanden misst. Diese Scanner können nur Bilder mit der Auflösung von einigen Millimetern liefern, da sie messen, wohin im Gehirn über die Blutgefäße gerade besonders viel Sauerstoff transportiert wird. In einem Würfel von drei Millimeter Kantenlänge, der in den Analysen als Punkt erscheint, sind aber gut eine Millionen Nervenzellen zusammengefasst. Der Scanner registriert also nicht die Aktivität einzelner Neuronen.

Einschränkungen
Wie sich ein Gedanke in Gehirnaktivität äußert, unterscheidet sich von Person zu Person. Der Computer, mit dem die Scannerdaten analysiert werden, muss auf jeden Probanden neu eingestellt werden. Es komme aber darauf an, wie detailliert man frage, sagt John-Dylan Haynes. Der Gedanke an ein Gesicht äußert sich bei allen Menschen in einer ähnlichen Gehirnaktivität. Der Gedanke an ein bestimmtes Gesicht aber nicht. Mit der Zeit kann sich auch bei einer Person die Gehirnaktivität eines Gedankens ändern, weil die Person zum Beispiel andere Dinge damit assoziiert.