Historiker zur Kinderkur in Bad Dürrheim „Die Kinder waren einem System potenzieller Straftäter ausgeliefert“

Silvia Wisbar ist nach 58 Jahren zum ersten Mal wieder nach Bad Dürrheim in das Kindersolbad zurückgekehrt. Foto: StZN/Hilke Lorenz

Lange hat das DRK-Baden zu den Vorkommnissen im ehemaligen DRK-Kindersolbad geschwiegen. Jetzt entschuldigt es sich bei den Betroffenen für die Gewalt, die sie dort erlebt haben – und präsentiert eine Dokumentensammlung.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Zwischen Gegenwart und Vergangenheit liegen gut 300 Kilometer und 58 Jahre Leben. Silvia Wisbar steht vor den runtergekommenen Resten des ehemaligen DRK-Kindersolbads Bad Dürrheim. Kaputte Fensterscheiben, Graffitis, marodes Innenleben. Die Frau, die aus Wiesbaden angereist ist, hat keine guten Erinnerungen an diesen Ort. Sie ist zum ersten Mal nach über einem halben Jahrhundert wieder dort, wo über Jahrzehnte eines der größten sogenannten Kindererholungsheime Deutschlands bis 1982 in Betrieb war. In Verantwortung des Roten Kreuzes Baden. Hier im Schwarzwald war Silvia Wisbar 1966 als Sechsjährige zusammen mit ihrer kleinen Schwester zur Kinderkur.

 

Hier hat sie erlebt, wie ihre lebhafte vier Jahre alte Schwester vor ihren Augen an einen Stuhl festgebunden wurde. Sie selbst wurde, weil sie im Waschraum ohne Waschlappen war, von einer grausamen Betreuerin, einer Schwester Ursula, an den Haaren in die Badewanne gezerrt, kalt abgespült und an den Haaren immer wieder unter Wasser gedrückt. Die Todesangst, die sie damals erlebte, begleitete sie lange. Sie zeigt mit der rechten Hand hoch in Richtung zweiter Stock. „Dort oben muss es gewesen sein“, sagt sie und meint den Gang, in dem sie damals in der Nacht stehen musste. Als Bestrafung, weil der Toilettengang verboten war und sie sich eingemacht hatte. Sie geht durch das Tor, das die zwei großen Gebäudetrakte verbindet, und sagt: „An diesem Tor habe ich meine unbeschwerte Kindheit zurückgelassen.“

Mut schafft Öffentlichkeit

Dass sie den Mut hatte, Anfang 2021 in dieser Zeitung von ihren schlimmen Erlebnissen zu erzählen, sorgte beim Badischen Roten Kreuz offenbar für große Aufregung. Denn zusätzlich zu ihren eigenen Geschichte förderten Wisbar und andere ehemalige Bad Dürrheimer Verschickungskinder durch ihre Recherchen noch anderes zu Tage. So fanden sie Artikel, in denen der Chefarzt des Kindersolbads Hans Kleinschmidt von seinen Medikamententest an Kurkindern berichtete. Und dass er 1942 ein Kind in eine Kinderheilanstalt überwies und es somit der Euthanasie auslieferte. Beunruhigende Befunde sind das.

Der Ort des Grauens: das zerfallene DRK-Kindersolbad Foto: privat/Wisbar

Das Badische Rote Kreuz hat zu all dem fast vier Jahre öffentlich geschwiegen. Dass Silvia Wisbar heute nach Bad Dürrheim, einem für sie mit Schrecken besetzten Ort zurückgekommen ist, liegt an der Einladung, die sie im August erreichte. Das Rote Kreuz in Person von Hanno Hurth, Präsident des DRK-Landesverbands Badisches Rotes Kreuz, lud sie in die Kurstadt ein. Nach einem Wechsel an der Spitze wollen die Badener nun offenbar in die Offensive gehen. Denn jetzt soll endlich geredet werden. Oder besser gesagt, eine Quellensammlung zum Thema vorgestellt werden. Und das gleich mit großem Bahnhof in der Lounge des Kursaals von Bad Dürrheim. Der Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) ist an diesem späten Donnerstagnachmittag angereist, ebenso viele Vertreter der ehemals an der Kinderverschickung beteiligten Institutionen, die sich auf Einladung Luchas regelmäßig bei einem Runden Tisch treffen.

Zwei Jahre lang haben Sebastian Funk und Johannes K. Staudt, beides junge Historiker, die Dokumente zum Haus Hohen Baden zusammengetragen, die sich in Besitz des Roten Kreuzes befinden. Ausdrücklich keine Studie sei das, hat das Rote Kreuz schon im Vorfeld immer wieder betont, um die Erwartungen zu dämpfen. Denn Personalakten, Patientenakten oder Akten über den Alltag im Kindersolbad haben Funk und Staudt nicht gefunden. Wohl aber Vorstands- und Präsidiumsprotokolle. Damit ist klar, dass die Medikamentenversuche Kleinschmidts bekannt waren. In Hinblick auf die Grausamkeiten mancher Schwestern kommen die Historiker zu dem Schluss, dass „die Kurkinder einem System potenzieller Straftäter ausgeliefert waren“. Trotz Renovierungsbedarfs und Personalmangels habe die Devise gegolten, die Einrichtung „koste, was es wolle, zu erhalten“. Sie war „too big to fail“.

750 Seiten Dokumente

Das 750 Seiten starke Werk soll nicht nur vorgestellt, sondern – vor allem – Silvia Wisbar stellvertretend für die anderen Betroffenen überreicht werden. Ein einigermaßen gewagtes Unterfangen ist das, Betroffene dorthin einzuladen, wo sie wehrlos der Gewalt übermächtiger Erwachsener ausgesetzt waren. Auch Silvia Wisbar hat erlebt, wie unsensibel der Umgang mit ihr und den anderen sein kann und auch gewesen ist. Nach einer Onlinesitzung hat die Heimortgruppe Bad Dürrheim, zu der sich ehemalige Verschickte zusammengeschlossen haben, erst mal den Kontakt mit dem badischen Roten Kreuz abgebrochen. Es herrschte Funkstille. Silvia Wisbar nennt den Kontakt „gelinde gesagt: sehr holprig“. Es ist also kein leichter Gang für sie. Und natürlich wird es auch ein Foto geben, das zeigt, wie DRK-Präsident Hurth ihr das Werk übergibt. Vorher hat er sich „persönlich und im Namen des Badischen Roten Kreuzes“ bei allen entschuldigt, „die im Haus Hohen Baden und anderen Einrichtungen Opfer von psychischer und körperlicher Gewalt geworden sind“. Minister Lucha verspricht, den Runden Tisch weiterzuführen. Die Rolle des Landes sei jetzt, Dialogformate zu unterstützen.

Silvia Wisbar zitiert in ihrer kurzen Rede aus der Mail eines Betroffenen, die sie in den letzten Tagen erreicht hat: „In letzter Zeit tauchen die Erlebnisse als unverarbeitete Hürden auf, die ich dringend bewältigen muss. Hier ist eine grundlegende Aufklärung für mich wichtig. Der Erziehungsterror wie Aufessenspflicht, Ohrfeigen und Schläge, Stillschweigestunden, Verweigerung der Notdurft, einsames Wegsperren bei Ungehorsam, stundenlanges in der Ecke oder auf kaltem Boden Stehen. Dazu die anzunehmenden Medikamentenversuche; sie machen mir schwer zu schaffen und lösen schwere Beklemmungen aus.“

Kann nur ein Anfang sein

Für Silvia Wisbar und die Menschen, für die sie spricht, „kann die Quellensammlung nur ein erster Schritt sein“. Ein Gutachten aus den Reihen der Landesärztekammer gibt den Weg vor. Es rät dringend, die möglichen Folgen der Medikamentengaben zu untersuchen. Der Runde Tisch will nun eine Unterarbeitsgruppe gründen, die eine Projektskizze erarbeiten soll, wie eine mögliche Studie aussehen könnte. Auch Hanno Hurth hat versprochen, die Aufarbeitung müsse weitergehen. Silvia Wisbar bekäme so ja vielleicht eine Antwort auf die Frage, die sie sich seit Langem stellt: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Tatsache, dass alle 29 Kinder ihrer Gruppe am selben Tag an Windpocken erkrankten und für 14 Tage in Quarantäne geschickt wurden und der Tatsache, dass Hans Kleinschmidt den Einsatz eines Medikaments gegen die Kinderkrankheit erprobte? Sie will an keinen Zufall glauben.

Quellensammlung

Buch
Sebastian Funk, Johannes Karl Staudt (Hg.), „Haus Hohenbaden – Das DRK-Kindersolbad in der Überlieferung des Badischen Roten Kreuzes“, erschienen im Rahmen der Reihe „Beiträge zur Rotkreuzgeschichte“, AVM Edition, 70 Euro.

Online
Die Quellensammlung ist auch barrierefrei und kostenlos als Open Access-Publikation abrufbar unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/

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