Der Historikertag in Münster ergründet die Abgründe gespaltener Gesellschaften. Doch auch die Geschichte selbst spaltet die Gesellschaft.
Münster - Hoch oben am Turm der Lambertikirche im Zentrum von Münster hängen drei eiserne Käfige. Hier lässt sich besichtigen, was gerade vor sich geht in der Universitätsstadt. Die Käfige sind zugleich Symbole des Triumphes und des Scheiterns. Im Jahre 1536 hatte man die Leichen von Bernd Knipperdolling, Jan van Leiden und Bernd Krechting darin zur Schau gestellt: die Anführer des Täuferreiches, die in Münster ein „Königreich Zion“ errichten wollten. Ihre Utopie hinterließ eine gespaltene Stadt: enttäuschte Anhänger ihrer fanatischen Sekte auf der einen Seite, Opfer und Gegner auf der anderen.
Münster steht auch für die Überwindung einer Spaltung, die den ganzen Kontinent entzweit hatte. Hier wurde 1648 der Westfälische Frieden ausverhandelt, der den Dreißigjährigen Krieg beendete. Die Geschichte dieser Stadt lässt sich wie eine Fußnote des Generalthemas lesen, über das 3500 Historiker dort seit Tagen diskutieren: Gespaltene Gesellschaften. So lautet das Leitmotiv des 52. Deutschen Historikertages, der an diesem Freitag in Münster zu Ende geht. Er gilt als größter geisteswissenschaftlicher Kongress Europas.
Was Wolfgang Schäuble von Hannah Arendt gelernt hat
„Unüberwindlich erscheinende Spaltungen waren in der Geschichte eher die Regel als die Ausnahme“, sagt einer der Gastgeber, der Münsteraner Althistoriker Peter Funke. Gespaltene Gesellschaften hätten sich „nicht selten produktiv weiterentwickelt“, unterstreicht Eva Schlotheuber, die Vorsitzende des Historikerverbandes. Beider Metier ist eher das Vorgestern, nicht die Gegenwart, die von vielfältigen gesellschaftlichen Spaltungen gezeichnet ist. Die Risse verlaufen zwischen Liberalen und Autokraten, zwischen Weltoffenheit und nationalen Egoismen, zwischen Humanität gegenüber Flüchtlingen und Abschottungspolitik, zwischen dem Hunger nach mehr Demokratie und der Sehnsucht nach starken Männern – und sie zerteilen die sozialen Netzwerke in unzählige Echoräume, in denen das wirkliche Geschehen nur als gefühlte Realität widerhallt.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble begrüßte in seiner Rede die „hohe aktuelle Brisanz“. Die Welt werde von vielen als heterogener, unübersichtlicher, konfliktreicher wahrgenommen, als sie in persönlichen Erinnerungen erscheine. Harmonie ist für ihn aber kein politisches Ideal. „Homogene Gesellschaften wären wider die menschliche Natur“, sagt er. Von Hannah Arendt weiß er, dass „Menschsein nur im Plural möglich“ ist. Demokratie verlange das „fortwährende Austarieren konkurrierender Interessen“, Einigkeit sei nur im Streit herzustellen. Konstruktive Diskurse würden allerdings immer schwieriger. Schäuble mahnt: „Wenn jede Balance verloren geht, werden Ungleichheiten gefährlich.“
Spaltpilz der Moderne sind Wiedergänger aus der Weimarer Republik
Identitätspolitik ist einer der Keile, der Gesellschaften spaltet – obwohl sie das Gegenteil verspricht. Wer sind wir eigentlich? Die Frage zieht sich wie eine Trennlinie durch aktuelle Debatten. Ein Selbstverständnis, das sich durch Ausgrenzen definiere, verfalle in rassistische Denkmuster, sagt die in Köln lehrende Schweizerin Barbara Lüthi. Die vermeintliche Unvereinbarkeit unterschiedlicher Kulturen wertet sie als „grundlegende Kritik an einem liberalen Gleichheitsversprechen“.
In den USA sei Identitätspolitik längst „zur zentralen Politikform geworden“, sagt Jürgen Martschukat aus Erfurt. Macht und politische Teilhabe würden seit mehr als 200 Jahren von den Merkmalen „männlich und weiß, straight und protestantisch“ reguliert. Insofern sei Donald Trump keine Besonderheit, nur „der Präsident, der sein Weißsein so ungeschminkt in die politische Waagschale wirft wie kein anderer zuvor“.
Spaltpilz westlicher Gesellschaften ist eine politische Kraft, die als „neue Rechte“ gilt, obwohl unklar bleibt, was neu an ihr ist und warum sie über ein höheres destruktives Potenzial verfügt als andere Rechtsextreme. Für Gideon Botsch vom Moritz Mendelssohn Zentrum in Potsdam sind AfD und Konsorten „Wiedergänger der Konservativen Revolution“ in der Weimarer Republik. Eine Gefahr für die Demokratie sieht er vor allem darin, dass sie eine „antiparlamentarische Politik ins Parlament getragen“ hätten, mit ihrer Gegenöffentlichkeit die demokratische Diskussionskultur untergrüben und prinzipiell zur Gewalt bereit seien. Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert warnt hingegen vor einer Hysterisierung: „Wir verfügen über eine viel festere und selbstbewusstere demokratische Kultur als in Weimar.“
Warum Christopher Clark den „Kampf der Kulturen“ für einen Mythos hält
Christopher Clark aus Cambridge, Autor des Bestsellers „Schlafwandler“ zu den Ursachen des Ersten Weltkriegs, zieht Parallelen zwischen dem Kulturkampf gegen den politischen Katholizismus im 19. Jahrhundert und dem gegenwärtigen „Kampf der Kulturen“. Er habe sich damals wie heute eines medialen Modernisierungsschubs bedient. Auch zu Kaisers Zeiten gab es Hassbotschaften und rücksichtlose Polemik: Von 1859 bis 1878 seien 427 antikatholische Romane erschienen und eine Flut verunglimpfender Karikaturen.
Neu sei allerdings die „Totalität, soziale Tiefe und umfassende Kommunizierung“ rechter Propaganda im Internet. Clark hält es gleichwohl für einen „Mythos“ von einem regelrechten „Kulturkrieg“ zu reden. Weder in der Brexit-Debatte noch in Trumps Amerika oder in der Auseinandersetzung mit Rechtspopulisten stünden sich zwei geschlossene Fronten gegenüber. Diese Kräfte hätten immerhin eine „demokratische Mobilisierung“ frustrierter Nichtwähler vermocht. Einen „Funken Hoffnung“ sieht Clark in den „Querschnittsspannungen“, die das Lager der Spalter irgendwann selbst spalten könnten.
Auch die Zunft der Historiker ist eine gespaltene Gesellschaft. Bei ihrem Mammutkongress wird das Thema in fünfzig verschiedenen Foren verhandelt, 900 Vorträge stehen auf dem Programm. Doppelt so viele Interessenten hätten gerne ihre Erkenntnisse referiert. Und das Wissen über die Geschichte spaltet die Gesellschaft. Die Kluft verläuft entlang des historischen Bewusstseins: Wenigen Experten steht ein wachsendes Heer von Ignoranten gegenüber. Der Kenntnisstand von Abiturienten sei miserabel, beklagt der Historikerverband. Studienanfänger, so die Vorsitzende Eva Schlotheuber, hätten oft „von ganzen Zeitaltern keine Ahnung“.