Die Agnesstraße in Degerloch hieß im Zweiten Weltkrieg Isoldestraße. Grund dafür war ein Reitunfall am 23. Dezember 1928 sowie ausschweifende Feiern. Der Anwohner Eberhard Weiss kennt die Geschichte.

Klima und Nachhaltigkeit: Julia Bosch (jub)

Degerloch - Besser als er kennen sich in Degerloch wohl nur die Ortshistoriker aus. Eberhard Weiss, 73 Jahre alt, wohnt seit dem Jahr 1955 in Degerloch. Damals floh er als Zwölfjähriger mit seiner Familie aus dem russischen Königsberg und kam in den Wohnungen der Flüwo unter. Seit dem Jahr 1985 ist die Agnesstraße sein Zuhause, eine etwas mehr als 200 Meter lange Sackgasse, an der große, schöne Villen stehen. Doch obwohl die Straße zu den Kürzesten in Stuttgart zählen dürfte, ist ihre Geschichte eine faszinierende.

 

„Die Agnesstraße musste ihren Namen zwischenzeitlich für einige Jahre abgeben und hieß zwischen dem Jahr 1938 und 1945 Isoldestraße“, sagt der Anwohner Eberhard Weiss. Der Hintergrund dieser Umbenennung ist tragisch und komisch zugleich. „Unsere Straße verdankt ihren Namen der lebenslustigen Agnes Belz“, erzählt Eberhard Weiss. Deren Vater gehörte das weitläufige Grundstück zwischen der heutigen Jahnstraße und dem Hainbuchenweg. Es sei der Tag vor Heiligabend gewesen, als Herr Belz mal wieder mit dem Pferd auf seinem Grundstück unterwegs gewesen sei – und verunglückte: „Am 23. Dezember 1928 fiel der Vater von Agnes Belz vom Pferd.“ Seine Tochter erbte das üppige Grundstück des Vaters.

Von Tugendhaftigkeit keine Spur: Agnes Belz feierte rauschende Feste

Nach einer gewissen Trauerphase habe die Tochter nach und nach einzelne Parzellen des Grundstücks verkauft. „Durch diese wiederkehrenden Verkäufe konnte Agnes Belz derart rauschende Feste finanzieren“, berichtet Weiss. Dies sei der nationalsozialistischen und wenig feierfreudigen Stadtverwaltung im Jahr 1938 zu bunt geworden. Die ständigen Eskapaden der wenig tugendhaften Frau führten dazu, dass man die Straße in Isoldestraße umbenannte. „Die Feiern in der Villa hörten dadurch zwar nicht auf, das liederliche Treiben war so aber nicht mehr mit dem Straßennamen verknüpft“, sagt Weiss.

Eine andere Anekdote beschreibt dieses „liederliche Treiben“ näher. Noch heute sieht man, dass das Haus an der Agnesstraße 11 zurückgesetzt gebaut wurde. „Grund dafür war eine große Esche, die im Weg stand“, weiß Eberhard Weiss. Diese Esche sei für Agnes Belz von solch hohem Erinnerungswert gewesen, dass sie das Grundstück im Jahr 1932 nur unter der Bedingung verkaufte, dass der Baum erhalten bliebe. „Der Baum erinnerte Agnes Belz an ein im Sommer dort erlebtes vergnügliches Erlebnis“, berichtet Weiss schmunzelnd.

Nach Kriegsende bekam die Agnesstraße wieder ihren alten Namen zurück

Nach dem Krieg wurde die Isoldestraße im Jahr 1945 wieder zurück benannt in Agnesstraße. Dass die Straße damals überhaupt nach einer jungen Bewohnerin benannt worden war, lag daran, dass sie zu dieser Zeit noch ein Privatweg war. Diesen benannte Vater Belz nach seiner Tochter.

All diese Informationen hat der pensionierte Volkswirtschaftler Weiss aus Büchern über Degerloch und von Postkarten, die er bei Flohmärkten oder auf der Auktionsplattform Ebay gekauft hat. „Ich sammle seit etwa zwölf Jahren alte Postkarten.“ Er schätzt, dass es insgesamt etwa 700 historische Postkarten von Degerloch gibt – 250 davon habe er.

Noch heute sind die Anwohner der Agnesstraße feierfreudig

Die meisten Postkartenmotive wurden vom ehemaligen Aussichtsturm in Degerloch aufgenommen, der dort stand, wo heute der Kinderspielplatz an der Ecke Hainbuchenweg/Nägelestraße ist. Im Jahr 1943 wurde der Turm auf Befehl vom damaligen Stuttgarter Polizeipräsidenten Karl Schweinle gesprengt, da man feindliche Angriffe befürchtete. „Doch die Feinde fanden Stuttgart auch so“, erzählt Weiss.

Diese historischen Zusammenhänge sind nur ein kleiner Teil des Wissens von Eberhard Weiss. Er hat vor, ein Buch zu schreiben über die Villen Degerlochs: „Die Geschichten darüber, was in den stolzen Häusern passiert ist, interessieren mich.“

Eines haben die Anwohner übrigens von Agnes Belz übernommen: Auch heute werden dort noch große Partys gefeiert wie das Wendeplattenfest. „Jedes Jahr kommen an die 50 Personen: ehemalige und aktuelle Anwohner, deren Kinder, Freunde und Bekannte“, sagt Weiss. Im kommenden Jahr wird das Straßenfest zum 15. Mal gefeiert.