HIV-Positive suchen bei einer Aktion der Aids-Hilfe in der Stuttgarter Stadtbibliothek das Gespräch mit Besuchern.

Die Tabletten runterzuschlucken, war fast unmöglich. 28 runde Dinger so groß, dass Petra Mercury sie am liebsten zerkleinert hätte. Dann wären es aber 56 Pillen gewesen oder noch mehr. Nein, das Dutzend musste einfach die Speiseröhre hinunter. Egal, wie viel Wasser nötig war, um es in den Magen zuspülen.

 

Petra Mercury erinnert sich genau an den Beginn der HIV-Therapie. Letztlich machte sie das Virus, das in den 80er Jahren praktisch ausnahmslos dahingerafft hat, zu einer chronisch Kranken. Sie ist mit immer neuen Medikamenten immer besser beherrschbar geworden. Heute nimmt die Frau Mitte Vierzig eine Ration von zwei Mal drei Tabletten am Tag. Andere Infizierte schlucken nur noch eine Pille. „Bei mir klappt das nicht, ich vertrage die neuen Medikamente nicht so gut.“

Also nimmt sie etwas aus der ersten Generation der HIV-Medikamente. Es zieht das Fett aus Gesicht und Armen und setzt es am Bauch an. Petra Mercury macht das nichts aus. „Ich habe manchmal mehr Immunzellen im Blut als Nichtinfizierte“, sagt sie.

Anlehnung an Freddy Mercury

Natürlich heißt sie nicht „Petra Mercury“. Der falsche Nachname ist dem Queen-Sänger Freddy Mercury entliehen. Er starb 1991 an Aids. In der Zeit also, bevor die ersten wirksamen HIV-Medikamente zur Verfügung standen. Neben „Petra“ gibt es noch sieben weitere „Mercurys“. Sie stehen in der Stadtbibliothek allen bereit, die wissen wollen, wie es ist, mit HIV zu leben. Symbolisch werden an einem Stand Bücher ausgeliehen. Auf ihnen stehen die falschen Namen der Infizierten und ein von ihnen gewähltes Motto. Wer ein Buch entleiht, kann mit dem entsprechenden „Mercury“ ein Gespräch führen. Fünf Minuten oder auch fünf Stunden lang,. „Je nachdem, was sich beide zu sagen haben“, sagt Alfons Stetter von der Aids-Hilfe Stuttgart.

Die Aktivisten veranstalten ähnliche Aktionen seit 2009 jeweils in zeitlicher Nähe zum Weltaidstag am 1. Dezember. Manchmal kämen auch Menschen, die Stetter als Spinner bezeichnet. „Die wollen dann bekehren und von Sünden befreien“, sagt er. Denn immer noch stecke die Gesellschaft HIV-Infizierte in die drei Schubladen: schwul, Junkie, Hure. „HIV-Infizierte müssen sich weiterhin vor ihrem Umfeld verstecken. Wir wollen mit solchen Aktionen dazu beitragen, dass sich das ändert.“

Die Infizierten wissen um den Makel, den sie mit dem Virus gewissermaßen gratis dazu erhalten haben. „Solange die Gesellschaft HIV als Stigma betrachtet, muss ich es auch so sehen“, sagt Petra Mercury. Ja, sie war heroinabhängig und hat auch Spritzbesteck mit anderen geteilt. Und ja, sie war Ende der 80er Jahre Prostituierte, um sich die teure Sucht finanzieren zu können. „Im Entzug habe ich auch ungeschützten Sex gehabt, um mehr Geld anzuschaffen“, sagt sie. Darüber nachzudenken, wo genau sie sich mit dem Virus angesteckt hat, sei müßig. „Es war meine Schuld. Aber ich bin die einzige, die auch das Recht hat, mich daran zu erinnern.“

Infektion verdrängt

Markus Mercurys Motto lautet „Vertrauen gewinnen“ . Er hat es gewählt, um seinen Weg zu beschreiben vom Darniederlegen auf der Intensivstation zum aufrechten Gang als Aids-Aktivist. Der junge Mann Anfang Dreißig ist von außen nicht anzusehen, dass er monatelang mit dem Tod gerungen hat. Er hat sich geweigert, HIV-Medikamente zu nehmen, bis es fast zu spät war. Heute muss er mit den Spätfolgen leben. Ein durch Lungenentzündung vernarbtes Bronchialgewebe ist ihm geblieben, obwohl die Tabletten das zerstörerische Virus mittlerweile erfolgreich in Schach halten. „Ich habe keine schöne Geschichte zu erzählen“, sagt er. Dagegen eine, die von Scham geprägt ist.

Religiöse Scham

Markus Mercury kommt aus einem religiösen Umfeld. Seine Homosexualität wollte er unterdrücken, aber das hat natürlich nicht geklappt. Sein Freund hat ihn wohl mit dem Virus angesteckt, vermutet er. Obwohl beide zunächst einen HIV-Test gemacht hatten, bevor sie ungeschützten Sex miteinander hatten. „Wir hatten uns getrennt, waren dann noch einmal kurz zusammen, vielleicht ist es da passiert.“

Seine Scham betrifft aber auch den eigenen Umgang mit der Infektion. Lange wollte er sie nicht wahrhaben, vertraute lieber auf so genannte Aids-Kritiker. Im Internet propagieren sie, dass die Krankheit eine reine Erfindung sei, mit der die Pharmaindustrie Geld verdiene. Als er bereits das Bewusstsein verloren hatte, gaben Ärzte ihm die virenhemmenden Medikamente in den Tropf. Eine Entscheidung, dank der Markus Mercury heute noch lebt. „Ich habe durch HIV gelernt, Vertrauen zu haben auch zu mir selbst“, sagt Markus Mercury. Und wohl ist ihm auch etwas klar geworden: Schämen muss er sich für nichts.