Im Prozess gegen führende Köpfe des Osmanen-Boxclubs verwickeln sich Zeugen und Aussteiger in Widersprüche. Eine Zwischenbilanz des in ganz Deutschland viel beachteten Verfahrens.

Stuttgart - Selbst Kleinigkeiten verursachen in diesem spektakulären Prozess im Mehrzwecksaal der Justizvollzugsanstalt Stammheim großen Aufwand. Als bei dem Verteidiger des Stuttgarter Osmanenchefs Levent Uzundal ein winziger Stecker aus dem Mikrofon rutscht, müssen ein halbes Dutzend Polizisten aufmarschieren und die Angeklagten fesseln, bevor ein JVA-Mitarbeiter unter den Tisch klettern und das Problem beheben kann.

 

Alles hat große Dimensionen: 300 bis 400 Sicherheitskräfte sichern jeden Verhandlungstag ab, jeder, der dem Prozess beiwohnt, muss seine Schuhe durchsuchen lassen und den Gürtel ausziehen. 16 Anwälte, zwei Staatsanwälte, drei Richter und sechs Schöffen wollen in dem Mammutprozess der Wahrheit näher kommen. Immer wieder berichten auch überregionale Medien. Auch der FDP-Landtagsfraktionschef Hals-Ulrich Rülke besucht einen Prozesstag.

Politik spielt keine Rolle im Prozess

Es geht um schwere Vorwürfe: Versuchter Mord, brutale Schlägereien, Menschenhandel, Zeugenbeeinflussung, eine Massenschlägerei. Vor allem aber ist das Verfahren der Versuch der Justiz, eine kriminelle Subkultur im Rotlicht- und Straßenkampfmilieu auszuhebeln und die bis in die türkische Regierung vernetzte Osmanen-Spitze um die Anführer Mehmet Bagci und Selcuk „Can“ Sahin zu überführen. Politik bleibt allerdings außen vor – die Verbindungen der Osmanen über den türkischen Kulturverein UETD, mögliche Waffenkäufe in der Schweiz oder Einflussnahme des türkischen Geheimdienstes MIT spielen in der Anklage keine Rolle. Wie ist der Stand des Verfahrens nach neun von 50 Verhandlungstagen?

Der Richter Joachim Holzhausen führt den Prozess souverän und mit freundlicher Aufmerksamkeit. Zeugen befragt er akribisch und gut vorbereitet. Als ein angeblicher Osmanen-Aussteiger berichtet, dass er keinen Kontakt mehr zum Stuttgarter Osmanen-Präsidenten Levent Uzundal habe, zeigt Holzhausen ihm Handy-Protokolle, in dem über ein großes Grillfest bei Uzundal spricht.

Die Anwälte haben unterschiedliche Strategien

Wenig durchschaubar ist bislang die Strategie der 16 Verteidiger. Die Anwaltschar ist heterogen. Der bekannte Frankfurter Staranwalt Julian Heiss verteidigt Selcuk Sahin – und hält gerne Schaufensterreden. Schon zu Beginn versucht er, den Staatsanwalt Michael Wahl aus dem Verfahren zu kegeln, weil dieser angeblich angeordnet haben soll, die Verteidigerpost in den Zellen zu lesen. Mit solcher Verzögerungstaktik beißen sie aber bei Holzhausen auf Granit. Auch der aus Wirtschaftsverfahren bekannte Stuttgarter Advokat Sven Voggel genießt die Aufmerksamkeit.

Daneben gibt es eher ruhig auftretende Stuttgarter Anwälte wie Markus Bessler oder Hans Steffan, der aus dem Verfahren gegen den Vater des Winnender Amokschützen Tim K. bekannt ist. Sie stellen Detailfragen zur Entlastung der Mandanten.

Soll der Stuttgarter Osmanenchef Sündenbock sein?

Eine überraschende Wendung nimmt der Prozess ganz aktuell: Offenbar wird versucht, Bagci und Sahin aus der Schusslinie zu nehmen – und den den Stuttgarter Osmamenchef Levent Uzundal zu belasten. Das ist erkennbar bei der Aussage des früheren Präsidenten des Chapters Marburg-Gießen, der in Herrenberg im Februar 2017 brutal gefoltert und dabei fast ermordet wurde. Im Gegensatz zu früheren Aussagen schiebt er nun alle Verantwortung nicht mehr Osmanen-Vize Selcuk Sahin zu, sondern dem 35-jährigen Uzundal aus Gäufelden im Kreis Böblingen, der bereits 18-fach vorbestraft ist und kopfschüttelnd die Aussage verfolgt. Die Frauen aus seinem Umfeld sprechen im Zuschauerraum schon davon, Uzundal solle „geopfert“ werden .

Dazu passen Erkenntisse aus Handyprotokollen, wonach das Folteropfer später bei Mehmet Bagcis Familie zu Gast gewesen sein soll. Wird der Zeuge umgarnt? Oder bedroht? Letzteres beteuert er im Zeugenstand – verwickelt sich aber in Widersprüche. Diese Unschärfe ist typisch auch für andere Osmamen-Prozesse. Lange Zeit hatte die Justiz Mühe, Aussagen zu bekommen. Das ist jetzt anders – doch die Suche nach der Wahrheit bleibt schwierig.

Was kann man den obersten Anführern nachweisen?

Die acht Angeklagte selbst schweigen eisern. Der „Weltpräsident“ Mehmet Bagci, ein schmächtiger Mittvierziger mit teils ergrautem Bart, hat sich nur einmal über angebliche Schmähungen im Gefängnis beschwert. Sonst: Keine Angaben. Der oberste Anführer der aufgepumpten Muskelmänner sieht eher aus wie ein Intellektueller als wie der Pate eines mafiaartigen Organisation, die zeitweise den Straßenkampf mit den Kurden in der Region und in anderen Großstädten wie Frankfurt, Wuppertal oder Bremen dominiert hat.

Im Prozess beginnt nun die Mühsal der Ebene. Die Verteidiger werden versuchen, die Aussteiger im Kreuzverhör unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Am Ende wird auch die Frage wichtig sein, ob man Aussagen glauben kann, wenn Telefonprotokolle etwas ganz anderes belegen. Und ob man den Anführern Mehmet Bagci und Selcuk Sahin hinreichend viel Straftaten nachweisen und sie verurteilen kann.