Es ist eine Disziplin, die in der ökonomisierten Gesellschaft kaum eine Überlebenschance zu haben scheint; am Leibniz Kolleg in Tübingen ist sie noch zu finden: Das Studium Generale.

Tübingen - Auf dem Tisch stehen leere Gläser, daneben Flaschen, die am Vortag noch mit Alkohol gefüllt waren. Feiern gehört zum Leben im Tübinger Leibniz-Kolleg ebenso dazu wie die regelmäßige Teilnahme an Seminaren der unterschiedlichsten Fachbereiche, Studium generale genannt. So überrascht es auch nur auf den ersten Blick, dass zwischen den Überresten des Vorabends Studentinnen gerade mit ihrem Dozenten über das Bankensystem diskutieren. Diese Atmosphäre ist typisch für das Leben und Arbeiten am Leibniz-Kolleg. „In der Schule waren Lernen und Freizeit klar getrennt, aber hier vermischt sich alles“, sagt zum Beispiel die Studentin Katharina.

 

Die 18-Jährige lebt seit Oktober im Leibniz-Kolleg. Die Bildungseinrichtung wurde im Jahr 1948 vor dem Hintergrund gegründet, dass in Deutschland eine Generation junger Menschen an die Universitäten strebte, die zwölf Jahre lang vom kulturellen Leben abgeschnitten war und die einen Hochschulzugang teils nur dank eines Notabiturs hatten, erzählt Michael Behal, der Direktor des Kollegs. Die Studierfähigkeit dieser Generation sei seinerzeit in Frage gestellt worden, außerdem habe die französische Militärregierung die studentische Lebensform reformieren wollen, so Behal. „Die deutschen Universitäten waren zu der Zeit noch relativ rechtslastig, und die Verbindungen und Burschenschaften haben ihren Teil dazu beigetragen.“

Viele wollen in Studienfächer hineinschnuppern

Auch heute sei im Leibniz-Kolleg der Bildungsgedanke noch zentral. „Viele Studierende kommen zu uns, weil sie einen breiteren Horizont gewinnen wollen“, sagt Michael Behal. Ein anderer wichtiger Grund sei, dass sie sich über ihre Zukunft im Unklaren seien. Häufig liege dies daran, dass die jungen Leute „in der Schule in vielen Bereichen wirklich gut waren und sich noch nicht entscheiden wollen, worauf sie sich spezialisieren sollen“, so Behal.

Dies gilt zum Beispiel für Katharina, Marike und Milena, die gerade auf dem Weg zum VWL-Seminar sind. Sie seien vor allem hier, um zu schauen, was sie studieren wollen, sagen sie. Allerdings werde man auch etwas verwirrt, weil man so vielfältige Eindrücke bekomme, mussten sie feststellen. Auch Manuel glaubt nicht unbedingt, dass die Entscheidung durch das Jahr am Leibniz-Kolleg leichter fällt. „Viele kommen hierher, weil sie sich breit gefächert informieren wollen, nicht, um eine Entscheidung zu treffen.“ Der 20-Jährige sitzt mit vier Kommilitonen bei einem späten Frühstück im Garten in der Sonne. Auch wenn sich der Eindruck aufdrängt, dass die jungen Leute hier vorwiegend dem Müßiggang frönen: ihr Stundenplan zeugt vom Gegenteil. Die ersten Lehrveranstaltungen beginnen um 8 Uhr, die letzten enden um 22 Uhr. Und damit nicht genug: „Wenn bei uns ein Seminar zu Ende ist, sitzt eine Gruppe Studierender in der Küche und diskutiert weiter“, erzählt Michael Behal. „Das Intellektuelle wird Teil ihres Lebens und endet nicht mit dem Seminar.“