Die Landesregierung will gegen „religiösen Analphabetismus“ vorgehen. Die Rektoren der Pädagogischen Hochschulen nehmen sie beim Wort. Sie fordern Professuren zur Ausbildung von islamischen Religionslehrern in Baden-Württemberg.

Stuttgart - Die Landesregierung will angesichts der jüngsten Terrorakte gegen den „religiösen Analphabetismus“ vorgehen und setzt dabei auf die Schulen. Beim islamischen Religionsunterricht wolle man Tempo machen, versprechen sowohl Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) als auch Kultusminister Andreas Stoch (SPD). Auch die oppositionelle FDP verlangt einen zügigen Ausbau des Angebots.

 

Recht so, loben die Islamexperten. „Radikalisierte beziehen ihr angebliches Wissen über den Islam zumeist aus Google und Co“, konstatiert Ismail Yavuzcan vom Zentrum für islamische Theologie in Tübingen. „Der Religionsunterricht kann einen Beitrag dazu leisten, das Friedensstiftende in der Religion zu erkennen und Toleranz und Empathie wecken. Menschen werden nicht fanatisiert durch religiöse Bildung“, sagt Yavuzcan, der in dem Zentrum als Lehrbeauftragter für Religionspädagogik arbeitet.

Im Rahmen des Religionsunterrichts könnten Schüler vielmehr Urteilskompetenz entwickeln, um sich ihr eigenes begründetes Bild vom Islam zu machen, um nicht Hasspredigern oder Fanatikern zu verfallen. Außerdem biete der Islamunterricht an Schulen jungen Muslimen „erstmals die Möglichkeit, ihre Religion auf Deutsch zu artikulieren“. Allein die Einführung des Unterrichts wertet Yavuzcan als positives Signal an die rund 600 000 Muslime im Land.

„Ungeheure Wertschätzung“

Von der integrativen Wirkung des Unterrichts ist auch Jörg Imran Schröter von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe überzeugt. Er hat soeben über die Einführung des islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen in Baden-Württemberg promoviert. Dass muslimische Schüler an der Schule Religionsunterricht besuchen können, vermittle vor allem deren Eltern eine ungeheure Wertschätzung. „Wenn an der deutschen Schule Muslime Islam unterrichten, wird bei muslimischen Eltern ein ungeheures Vertrauen aufgebaut“, analysiert Schröter. Er ist überzeugt davon, „dass diese Vertrauensbasis auch eine Loyalität in die andere Richtung schafft“. Durch das Angebot entstehe eine ganz andere Atmosphäre, als wenn die muslimischen Schüler „immer nebenan sind“. Im schlechten Fall bewirke es Ausgrenzung und negative Identität, wenn Muslime, die vielleicht größte Schülergruppe, auf dem Gang herumsäßen, während ihre christlichen Mitschüler im Religionsunterricht seien.

Trotz aller Lobeshymnen ist der islamische Religionsunterricht in Baden-Württemberg noch nicht über das Stadium des Modellversuchs hinausgekommen. Das Kabinett hat den Versuch schon im vergangenen Jahr bis zum Schuljahr 2017/18 verlängert und beschlossen, dass jedes Jahr 20 weitere Schulen hinzukommen können. Doch das löst das Problem nicht. Solange das Fach nur an Modellschulen angeboten wird, ist es als Studienfach nicht attraktiv. Das islamische Zentrum in Tübingen, das Gymnasiallehrer ausbildet, vermeldet zwar eine große Nachfrage, einen Arbeitsmarkt im Land gibt es aber noch nicht.

An den vier Pädagogischen Hochschulen, die islamische Religionspädagogik anbieten, wählen eher wenige Studenten das Erweiterungsfach, weil sie gar nicht wissen, ob sie an eine der bisher rund 30 Schulen kommen, die den Unterricht anbieten. Andere Schulen scheitern hingegen daran, dass sie keine Lehrer finden.

Das nächste Problem ist: solange das Fach kein reguläres Unterrichtsfach an den Schulen ist, müssen sich die Hochschulen bei der Lehrerausbildung mit Lehrbeauftragten behelfen und können keine formellen Lehrstühle einrichten. Zurzeit sind vier Lehrer abgeordnet, um die Religionslehrer auszubilden.

Pädagogische Hochschulen verlangen Professoren

Jetzt wollen die Pädagogischen Hochschulen Nägel mit Köpfen machen. Martin Fix, der Sprecher der PH-Rektorenkonferenz sagt, „es wäre das richtige politische Signal, wenn das Land nun Anschubfinanzierungen für Professuren leisten würde“. Fix fordert für jede PH, die Religionslehrer ausbildet, eine Juniorprofessur. „Angesichts der gesellschaftspolitischen Relevanz wäre ein Sonderprogramm gerechtfertigt“, findet der Ludwigsburger Rektor und ergänzt, „jetzt kann man nicht mehr länger warten“.

In der Lehrerausbildung wird bereits ein weiterer Schritt gemacht. Wenn im Wintersemester die Studiengänge auf Bachelor und Master umgestellt werden, kann islamische Religionspädagogik für Grundschulen als reguläres Studienfach und nicht wie bisher als bloßes Erweiterungsfach studiert werden.

Schulversuch beenden

Fix fordert ferner, das Land solle den Schulversuch beenden und islamischen Religionsunterricht zum regulären Unterrichtsfach machen. Dem stimmen Schröter und Ismail Yavuzcan zu. Ob flächendeckender Islamunterricht an den Schulen des Landes notwendig ist, darüber sind sich die Experten uneins. Während Schröter an den Gymnasien mangels muslimischer Schüler nicht den großen Bedarf sieht, spricht sich Yavuzcan als Vertreter der Gymnasiallehrerausbildung, für ein Regelangebot zumindest an den Gymnasien in Ballungsräumen aus. Bis jetzt gibt es an keinem baden-württembergischen Gymnasium Islamunterricht.

Ehe es zu der von der Regierung versprochenen Ausweitung des Unterrichts oder zum Regelangebot kommen kann, müssen Regierung und islamische Verbände sich noch bewegen. Nach mehr als zehnjähriger Debatte ist die Frage nach einem institutionellen islamischen Ansprechpartner für den Staat noch nicht gelöst.

Im Christentum sind die Kirchen für die religiösen Inhalte des Unterrichts zuständig. So ist der Islam nicht organisiert. Ismail Yavuzcan rät, der Staat sollte den Wunsch aufgeben, einen einzigen Ansprechpartner zu finden. Dafür seien die Verbände von Ditib über bosnische und arabische Muslimvereine viel zu heterogen. Andererseits sollten die Verbände sich darüber klar werden, „dass keiner von ihnen alleine das Rennen machen wird“, ergänzt Schröter.

Er appelliert an die Verbände, das Konkurrenzdenken abzulegen, „jetzt, wo der gute Wille der Politik da ist“. Von der Politik erwarten beide Experten, den Prozess jetzt zu forcieren. Bei den Verbänden sei in den langen Verhandlungen der Eindruck entstanden, die Politiker betrieben eine Verzögerungstaktik. Das dürfe nicht sein.

Zahlen und Inhalte

Im vergangenen Schuljahr boten 24 Grundschulen, eine Realschule und sechs Hauptschulen Islamunterricht an. Nach der Ausweitung im Jahr 2014 sind nach Informationen des Kultusministeriums sechs weitere Grundschulen dazu gekommen.

An den Pädagogischen Hochschulen in Karlsruhe, Ludwigsburg, Freiburg und Weingarten werden islamische Religionslehrer im Zuge eines Erweiterungsfachs ausgebildet. Derzeit sind 97 Studierende eingeschrieben. Sie absolvieren ein klassisches Lehramtsstudium und müssen Muslime sein.

Der Bildungsplan für die Grundschule sieht vor, dass Kinder auf altersgemäße Weise in die Glaubensgrundlagen des Islam eingeführt werden. Die Schüler sollen zum Beispiel erfahren, dass der Prophet Mohammed Werte wie Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Zuverlässigkeit, Mut, Hilfsbereitschaft beispielhaft vorgelebt habe. Den Kindern soll vermittelt werden, dass derartige Werte wichtig sind für ein Zusammenleben der Menschen. Sie sollen erfahren, dass die Gesellschaft vielfältig ist.