Esslinger mit Hochsensibilität Der Prinz auf der Erbse

Auf Spaziergängen mit Hündin Hachi durch Esslingens Weinberge löst Christoph Weinmann die angestauten Gedankenknäuel im Kopf auf. Foto: Horst Rudel

Aus unserem Plus-Archiv: Christoph Weinmann fühlte sich sein Leben lang als Versager. Heute weiß der Esslinger, was ihn von anderen Männern unterschiedet: Er ist hochsensibel. Wie fühlt sich das an? 

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

Esslingen - Die Ärzte holen ihn mit der Zange. Mehr als vier Kilogramm wiegt Christoph, eine schwere Geburt. Später macht der Junge nicht mehr viel von sich reden im Alltag der siebenköpfigen Familie Weinmann aus Filderstadt-Plattenhardt. Christoph ist das vierte von fünf Kindern, schmächtig um die Brust, unauffällig, fast unsichtbar. Die ersten Worte spricht er erst mit vier Jahren. Aber am Esstisch reden sowieso immer die anderen.

 

Während die anderen Geschwister durchs Dorf rennen, schaukelt er im Garten oder buddelt Löcher in die Erde und schnuppert an ihr. Er beobachtet die Hühner beim Picken, lauscht den Katzen beim Dösen. Mehr Action braucht er nicht. Denn was keiner ahnt: In Christophs Kopf spielen sich unendliche Fantasiereisen ab. Über jede Kreatur, der er begegnet, ob Nachbar oder Regenwurm, zerbricht er sich den Kopf. Als er sich mit fünf Jahren in ein Mädchen aus dem Dorf verliebt, verliert er sich in Träumereien. Hundert Hollywoodfilme könnte er damit füllen. Mit dem Mädchen tauscht er nie ein Wort.

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Es ist keine glückliche Kindheit. Früh beschleicht ihn das Gefühl, ein Sonderling zu sein. „In jeder Erinnerung bin ich allein in diesem großen Haus“, sagt er. „Dabei war ich es nie.“ 60 Jahre vergehen, bis Christoph Weinmann versteht, was mit ihm los ist, was ihn unterscheidet von anderen Jungs. 60 anstrengende Jahre mit Selbstzweifeln, Depressionen, Lebensmüdigkeit. Die vierte Psychotherapeutin lässt erstmals den Begriff fallen, der alles verändern wird. „Kann es sein, dass Sie hochsensibel sind?“ Weinmann versteht zunächst nicht recht, worauf sie hinaus will. „Ich bin bestimmt sensibel. Aber hochsensibel?“

Keine Störung, sondern eine Vorkehrung der Natur

Die Erkenntnis, dass manche Menschen zarter besaitet sind als andere, ist keine neue. Jedes Kind kennt das Märchen von der Prinzessin auf der Erbse. Auch wissenschaftlich wurde das Phänomen längst in Zahlen gegossen. Der Säuglingsforscher Jerome Kagan beschreibt bereits in den 1990-er Jahren, dass nahezu jedes fünfte Neugeborene auf Reize von außen besonders stark reagiert, etwa durch erhöhten Herzschlag oder mehr Stresshormone im Gehirn. Das ist bei höher entwickelten Säugetieren nicht anders. Biologen kommen daher zum Schluss, dass eine hohe Empfindsamkeit keine Störung sei, sondern eine sinnvolle Vorkehrung der Natur. Denn zum Überleben einer Spezies braucht es neben Draufgängern auch Feinfühlige, die vorsichtig unterwegs sind.

Trotzdem gab die Psychologin und Autorin Elaine Nancy Aron diesen Menschen im Jahr 1996 einen Namen: HSP – hochsensible Person. Denn die Amerikanerin, selbst dazu gehörig, litt schwer darunter, nicht zu wissen, warum sie empfindsamer ist als andere Personen in ihrem Umfeld. In der westlichen Kultur werde erwartet, dass man sich „bei buntgrellem Licht, bei Lärm und in Gegenwart vieler fröhlicher Menschen wohl fühlt“, stellte Elaine Nancy Aron fest. Ihr Leben lang schämte sie sich für ihren „Makel“, zog sich zurück, bis sie das Phänomen auch bei einigen ihrer Patienten zu beobachten begann.

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In ihrem Buch mit dem Originaltitel „Hochsensibel: Wie Sie aufblühen in einer überwältigenden Welt“ veröffentlichte Aron erstmals einen Test aus 21 Fragen, der Aufschluss darüber gibt, ob man eine hochsensible Person ist oder nicht. Demnach stören sich Betroffene häufig an kratzigen Wäschelabels, erschrecken leicht, leiden unter der schlechten Laune anderer, scheuen Konflikte, Veränderungen, Lärm, Licht und vieles mehr. Wobei keiner dem anderen genau gleicht.

Viele Ärzte halten Hochsensibilität für „Pipifax“

Seit dem Jahr 2006, seit das Buch in deutscher Übersetzung vorliegt, fühlen sich auch hierzulande immer mehr Menschen dieser Gruppe zugehörig. Inzwischen kursieren um die 130 Sachbücher in deutscher Sprache zum Thema. Auf der Internetseite www.hochsensibel.org finden Hilfesuchende, nach Postleitzahl sortiert, an die 700 Adressen von Psychotherapeuten und Coaches mit einem Schwerpunkt auf Hochsensibilität. Erste Doktorarbeiten handeln davon, erste Psychologieprofessoren referieren darüber.

Michael Jack vom Informations- und Forschungsverbund Hochsensibilität sieht hinter dem großen Interesse zwei Triebfedern: „Das Reizniveau in unserer Gesellschaft – und damit das Gefühl der Überforderung – ist heute höher denn je: Schüler müssen in großen, lauten Klassen dem Unterricht folgen. Und von Erwachsenen wird erwartet, schnell und flexibel zu sein, stets gut informiert, stressresistent.“ Gleichzeitig gestehe man sich heute aber auch eher ein, überfordert zu sein und unter Stress zu leiden. „Früher hätte man gesagt: Beiß die Zähne zusammen.“ Allerdings hielten noch immer viele Ärzte und Therapeuten der älteren Generation das Phänomen Hochsensibilität für „Pipifax“, sagt Jack.

Christoph Weinmann glaubt, dass besonders hochsensible Jungen und Männer mit Gefühlen von Minderwertigkeit zu kämpfen haben. „Frauen gesteht man eher zu, ein sensibles Wesen zu haben. Aber erwachsenen Männern? Sind das nicht sofort Heulsusen, Mimosen, Weicheier? Wie oft hörte ich den Spruch: Indianer kennen keinen Schmerz!“

Fremde Männer halten ihn für homosexuell

Die Pubertät erlebt Weinmann als Einzelgänger. Nur beim Fußball klopfen ihm andere Jungs anerkennend auf die Schulter, denn der schlaksige Stürmer schießt aus allen Winkeln Tore. Doch nach dem Training geht er wieder seiner Wege. Zu seinem Entsetzen sprechen oder fassen ihn immer wieder fremde Männer in der Öffentlichkeit an. Wieder ein Hinweis für ihn, irgendwie verkehrt zu sein, hat er selbst doch nur Augen für das andere Geschlecht. Schaut ihn allerdings ein Mädchen an, beginnen seine Wangen wie rote Pfirsiche zu leuchten. Seine erste Freundin hat er mit 21 Jahren. Sie ergreift die Initiative, später heiraten sie. Am Tag vor der standesamtlichen Trauung sagt sein Vater im Beisein von Gästen: „Bei euch beiden weiß man ja, wer die Hosen anhat.“ Die Ehe wird nicht halten.

Wegen seiner feinen Nase und seines ausgeprägten Geschmacksinns macht Weinmann nach der Schule eine Lehre als Koch. Wie das Fußballfeld, so ist auch die Küche für ihn ein abgesteckter Raum mit klaren Regeln, in dem er sich souverän bewegen kann. Geht es hoch her, bewahrt er die Ruhe. Anschließend schläft er zwölf Stunden.

Berater rühmen die „Hidden Rockstars“

Auf Dauer befriedigt Weinmann die Arbeit als Koch jedoch nicht. Er holt die Fachhochschulreife nach, studiert an der Hochschule Esslingen Sozialarbeit und nimmt sich zunächst im Jugendamt Esslingen und später beim Kinderschutzzentrum Stuttgart problematischen Familien an. „Mich haben immer komplexe Beziehungen fasziniert“, sagt Christoph Weinmann. Andererseits laugt ihn die Arbeit aus. Er nimmt sich die Schicksale zu Herzen, macht viele Überstunden. Im Jahr 2004 kollidiert sein Anspruch, im Beruf „seinen Mann zu stehen“, mit seinem Naturell. Der obere Rücken verhärtet, der Brustkorb schmerzt, der Körper rebelliert. Erst nach mehreren Monaten in psychosomatischen Kliniken kommt er wieder zu Kräften.

Christoph Weinmann sagt, dass ihm die vierte Psychotherapeutin mit ihrer Frage, ob er hochsensibel sei, das Leben gerettet habe. Nach dem Gespräch verschlingt er alle Erfahrungsberichte, die er finden kann, und arbeitet sich durch die Fachliteratur. So erfährt er unter anderem, dass hochsensible Menschen in asiatischen Kulturen und Ländern wie Schweden hoch geschätzt werden. Dass sie im Altertum den Krieg führenden Königen häufig als einflussreiche Berater dienten. Und dass sich heutzutage ganze Personalabteilungen darin schulen lassen, wie sie die „Hidden Rockstars“, wie es in der Beraterszene heißt, in ihren Unternehmen erkennen und gezielter einsetzen können. Denn diese meist introvertierten Mitarbeiter machen nicht viel Aufhebens um ihre Person. Die Consultingfirma SMS (Sensibilität macht stark) schildert auf ihrer Website, dass das Arbeitspensum hochsensibler Mitarbeiter häufig erst nach ihrem Weggang erkannt werde, nämlich wenn diese von zwei, drei Mitarbeitern ersetzt werden müssten. „Hochsensible Mitarbeiter zeichnet eine hohe emotionale Berührbarkeit, intensives Erleben, Empathie und Kreativität aus“, heißt es da. Und: Sie hätten ein Gespür für gesellschaftliche Trends und seien zu „besonders vernetztem“ Denken fähig.

Keine Scham mehr bei Tränen

Allein schon das Wissen, einer von vielen zu sein, ist Balsam für Weinmanns Seele. „Ich kann mein Leben, das ich schon als gescheitert betrachtet habe, ganz neu bewerten.“ Er schäme sich heute nicht mehr, bei einem Liebesfilm in Tränen auszubrechen oder eine Party vorzeitig zu verlassen. „Die wesentliche Voraussetzung für Glück ist, wenn der Mensch bereit ist, das zu sein, was er ist“, zitiert Weinmann den holländischen Philologen und Humanisten Erasmus von Rotterdam (1466-1536). Eine Erkenntnis, die Weinmann in seinem Gedächtnis fest verankert hat.

Vor vier Jahren hängt Christoph Weinmann seinen Beruf an den Nagel und macht sich selbstständig als Coach für Hochsensible mit einer Praxis im Esslinger Stadtteil Sulzgrieß. „Ich hätte auch den vorzeitigen Ruhestand anpeilen können“, sagt der 66-Jährige.„Aber mir liegt am Herzen, dass auch andere Menschen ihre Wesensart erkennen und schätzen lernen.“ Sein Terminkalender füllt sich von allein, unter den Hilfesuchenden sind viele Väter und Söhne, die eine „gesunde Männlichkeit“ leben wollen. „Ich helfe Führungskräften, auch mal, ganz gegen ihre Art, auf den Tisch zu hauen. Und ich nehme Kinder ernst, die mir erzählen, das Gras wachsen zu hören“, sagt er. „Und mit jeder Begegnung bin ich aufs Neue fasziniert von dem inneren Reichtum meiner Gesprächspartner.“

Zwischen den Terminen geht Christoph Weinmann spazieren, um den Kopf frei zu kriegen. Neuerdings begleitet ihn Hachi, eine japanische Shiba Hündin, die den Ton angibt. Sie führt Weinmann querfeldein und steil hinauf, über matschige Wiesen zu Maulwurfshügeln und Mäuselöchern, die sie hingebungsvoll aufbuddelt. Christoph Weinmann verzichtet darauf, sie in die Schranken zu weisen. Er freut sich mit ihr.

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